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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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mich. Nach kurzem Zögern streckte ich meinen Arm aus. Sie war schnell und stach zu durch den Ärmel hindurch in den Oberarm. Ich spürte kaum etwas, nur ein Kitzeln, das auch von einem Webfehler im Unterhemd hätte herrühren können. Sie drückte den Kolben, und die ganze Prozedur war in Sekundenbruchteilen erledigt.
    Abigail musterte mich. Ich hielt ihrem Blick stand und wartete auf eine Reaktion. Auf ein Brennen in der Kehle vielleicht oder einen Anflug von Müdigkeit. Die meisten Tricks unserer Mutter brachten ihr sofortige Genugtuung. Ich aber spürte nichts.
    Abigail nickte. Sie schien zufrieden zu sein und verlangte nun von mir, dass ich meine Jacke auszog. Ich streifte sie ab und überließ ihr mit der Jacke fast alle meine provisorischen Waffen, die in den Taschen steckten. Als Nächstes klopfte sie mich ab und nahm mir mein Handy weg, übersah aber den Kugelschreiber im Haarknoten und das mit Klebeband am Fußgelenk befestigte Messer in Winterstiefel und Wollsocke. Sie öffnete daraufhin die Tür ein Stück weiter und ließ mich in den dunklen Flur eintreten.
    «Randi hat nichts mitgekriegt», sagte sie, als könnte mir das etwas bedeuten. «Deine andere Freundin, Jackie, drehte sich ausgerechnet in dem Augenblick um, als ich ihr die Spritze setzte. Ich sagte ihr, es habe ihr ein Dorn hinten im Ärmel gesteckt, und sie glaubte mir. Tante Nancy hat die Spritze gesehen, und das war mir auch recht so.»
    Abigail führte mich an meinem Schlafzimmer vorbei in das große Wohnzimmer mit den verschiedenen Sitzecken und der Kochnische. Ich hatte mich nicht getäuscht – es sollte wohl für uns alle kein glücklicher Tag sein. Beide, Tante Nancy und Frances, meine Vermieterin, waren da. Frances hing reglos und bleich in einem ihrer verschossenen Ohrensessel ganz hinten im Zimmer. Meine Tante lag auf dem alten Sofa mit der geschwungenen Rückenlehne. Ihre Lider flatterten, was ich als gutes Zeichen deutete.
    Ich eilte sofort auf sie zu und fühlte ihr den Puls. Er war schwach. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie zitterte am ganzen Körper.
    «Was hast du getan?»
    «Das weißt du doch. Oder hat sie dich damit verschont?»
    «Womit?»
    «Insulin. Lässt den Blutzuckerspiegel zusammenbrechen. Versetzt dich ins Koma, und wenn du nicht krepierst, geht’s mit Tatütata ins Krankenhaus.»
    Sie sprach flapsig, aber ich verstand, was dahintersteckte, nämlich zahllose Missbrauchsepisoden, die sie hatte erdulden müssen. Ich hätte ihr gern mein Mitgefühl gezeigt, baute mich aber stattdessen breitbeinig vor ihr auf und plädierte für meine Sache.
    «Ich bin gekommen, ganz so, wie du wolltest. Lass mich den beiden etwas Zucker geben …»
    «Zuckerglasur. Wirkt besser», sagte Abigail. «Damit habe ich am Ende auch deine Freundinnen behandelt. Sonst wäre dem Pathologen womöglich die geringe Zuckerkonzentration aufgefallen. Ein bisschen Zuckerglasur, im richtigen Moment verpasst … Auf der Anrichte steht schon eine Sprühdose griffbereit.»
    Ihr Einverständnis machte mich stutzig. Alles andere als erleichtert steuerte ich auf die Küchenzeile zu und spürte, wie die Beine unter mir wegzubrechen drohten. Ich geriet ins Wanken, stolperte. Mir wurde plötzlich schwindlig und schwarz vor den Augen. Das Insulin tat seine Wirkung. Ich nahm die silberne Sprühdose von der Anrichte und kehrte zu meiner Tante zurück.
    «Du kannst den beiden das Zeug eintrichtern. Wenn du selbst davon nimmst, drück ich ab.» Abigail hatte die Injektionsnadel weggesteckt. Stattdessen hielt sie nun eine Sig Sauer, Kaliber .40, in der Hand.
    «Aber wo bliebe da der Spaß für dich?», fragte ich leichthin.
    «Ich habe nicht gesagt, dass ich dich töte. Ich sagte nur, dass ich abdrücken werde.»
    Es dauerte eine Weile, bis ich herausgefunden hatte, wie das Spritzventil zu bedienen war, für das vier Aufsätze zur Verfügung standen. Weißer Zuckerguss mit Vanillegeschmack. Zur Verzierung von Gebäck. Geeignet, um einen geliebten Menschen von den Toten zu erwecken oder zumindest aus dem Koma zu holen. Meine Hände zitterten. Ich musste mich konzentrieren, um den Fingern meinen Willen aufzuzwingen.
    Ich kümmerte mich zuerst um meine Tante, dann ging ich zu Frances, steckte ihr den Aufsatz in den offenen Mund und drückte aufs Ventil.
    Dann trat ich zurück und beobachtete die beiden wie meine Schwester auch.
    «Wie ist aus dir Detective O geworden?», wollte ich wissen. Ich stand drei Schritte von ihr entfernt. Ihre Pistole zielte auf

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