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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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meine Schwester anklopfte. Aber ich bezweifelte es.
    Ich stellte den Wagen auf der anderen Straßenseite ab, auf dem Parkplatz des Observatoriums. An einem Samstagnachmittag um fünf standen dort nur wenige Fahrzeuge. Es war völlig dunkel geworden, die Straßenlaternen verbreiteten schütteres Licht, das von den Schneehaufen reflektiert wurde.
    Eigentlich hatte ich Tulip im Wagen zurücklassen wollen, aber als ich die Fahrertür öffnete, flog sie über mich hinweg und nutzte meinen Schoß als Sprungbrett. Offenbar glücklich, sich wieder bewegen zu können, rannte sie im Kreis. Ich dachte daran, sie einzufangen und wieder in ihr allradbetriebenes Gefängnis zu sperren, brachte es aber dann doch nicht übers Herz.
    Ich rief sie ein letztes Mal zu mir, gab ihr einen Kuss auf den Kopf und bedankte mich für ihre Gesellschaft. Sie winselte ein wenig, wedelte mit dem Schwanz und schüttelte ihr weiß-braunes Fell, als würde sie frieren. Dann trottete sie los, weg von mir, neuen Abenteuern entgegen, von denen sie mir vielleicht irgendwann berichten würde, wenn ich dann noch lebte.
    Ich schaute ihr nach, bis sie hinter der Ecke des Backsteingebäudes verschwand. Mir zog sich die Brust zusammen, so fest, dass es mich selbst überraschte. Ich klopfte mir auf die Jackentaschen und fummelte an dem Schal, den ich um den Hals geschlungen hatte.
    Ich hatte mich ein Jahr lang vorbereitet und strategisch geplant.
    Jetzt hörte ich im Hinterkopf nur die Worte meiner Mutter. Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer.
    Ich überquerte die Straße und steuerte auf das dunkle Haus meiner Vermieterin zu.

    Die untere Reihe der dunklen Fenster wirkte auf mich wie ein zahnloses Grinsen. Es brannte weder die Lampe über dem Eingang noch die auf der Rückseite. Vielleicht war die Haustür nur angelehnt; vielleicht stand meine Schwester dahinter und wartete auf mich.
    Ich beschloss, das zu tun, womit am wenigsten zu rechnen war. Klar, Abby wollte mich hierhaben. Für uns beide gab es noch einiges aufzuarbeiten, also würde sie nicht gleich auf mich schießen. Sie wollte mit mir reden, und ich wollte ihr zuhören. Sie wollte meine Tante töten und mir so weh tun wie nur irgend möglich. Ich wollte ihr sagen, dass es mir leidtat, dass ich sie liebte und alles wiedergutmachen wollte, obwohl mir klar war, dass das wohl nicht möglich wäre.
    Ich wünschte, wir beide könnten ganz von vorn anfangen.
    Auf der Straße regte sich nichts, als ich das Gartentürchen öffnete und leise hinter mir zuzog. Von der Straße aus würde mich jetzt niemand mehr sehen können. Ich schlich auf die Hintertür zu, durch die ich zu kommen und zu gehen pflegte.
    Ich holte tief Luft und atmete aus.
    Ich klopfte. Dreimal. Poch, poch, poch.
    Zehn Sekunden später machte sie auf.
    Der Flur hinter ihr war eine gähnend schwarze Leere, während in meinem Rücken, wie ich mir vorstellte, der Nachthimmel über der Stadt schimmerte.
    Sie trug schwarze Jeans und einen enganliegenden schwarzen Sweater. Sie wirkte schlanker und härter als Detective O. Die Haare waren zu einem festen Pferdeschwanz zusammengefasst, und die Augen leuchteten durch unnatürlich blaue Kontaktlinsen.
    Ich sah sie an und erblickte meine Mutter.
    Ich sah sie an und erblickte mich selbst.
    «Hallo», sagte sie. «Mein Name ist Abigail.»

    Sie hob die rechte Hand mit einer Injektionsnadel, die auf mich gerichtet war.
    «Arm frei machen», sagte sie.
    «Was ist das?» Ich deutete auf die Nadel.
    «Das fragst du noch? Sei ein braves Mädchen und tu, was ich dir gesagt habe.»
    «Nein.»
    «Charlene Rosalind Carter …»
    «Unsere Mutter ist tot. Ich gehe nicht zurück, und auch du solltest dich trennen von dem, was gewesen ist. Wir sind Schwestern und achten einander.»
    «Arm frei machen!»
    «Nein.» Ich kehrte ihr den Rücken und setzte mich in Bewegung.
    «Wenn du gehst, stirbt sie», kreischte sie. «In acht Minuten, höchstens zehn. Mehr bleibt unserer Tante nicht. Oder ist dir das egal, SisSis ? Darauf verstehst du dich ja am besten: deine Familie im Stich und verrecken zu lassen.»
    Sie nannte mich bei meinem alten Spitznamen, was mir wie ein Sieg vorkam. Unser beider Gedächtnis setzte ein. Wenn ich die nächste Viertelstunde überleben wollte, musste ich meine Kindheit in Erinnerung rufen, insbesondere jene Zeit, als mich meine Schwester noch nicht so abgrundtief hasste. Als sie mich vielleicht sogar noch ein wenig liebte.
    Ich drehte mich wieder um. Sie zeigte immer noch mit der Nadel auf

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