Der Tag, an dem du stirbst
sich als ebenso schlafgestört wie seine Mutter. Ob er schon zahnte? Mit zehn Wochen wahrscheinlich noch nicht. Koliken? Vielleicht. Babys kamen leider nicht mit einer Bedienungsanleitung zur Welt. Vergangene Nacht hatte D.D. ihn in den Schlaf zu singen versucht. Er weinte umso heftiger. Sie wiegte ihn und weinte mit. Gegen vier schliefen sie beide gemeinsam ein. Um sechs ging der Wecker. Doch an den zwei Stunden Schlaf lag es nicht, dass D.D. so schlecht gelaunt war.
Zugegeben, ihr Leben hatte eine schroffe Wendung genommen. Nach dem Schock der unerwarteten Schwangerschaft mit vierzig hatte sie sich für die vage Aussicht auf ein häusliches Glück an der Seite des Kindsvaters entschieden. Sie hatte ihre Eigentumswohnung in North End verkauft, sich von den wenigen, über Jahre zusammengekauften Möbeln getrennt und war in Alex’ winzig kleine Vorstadtranch umgezogen. Er hatte ihr großzügigerweise den Wandschrank freigeräumt. Sie gab sich Mühe, ihm im Bett nicht immer die Decke streitig zu machen. Beide liebten die Arbeit im Garten.
Alex war hilfsbereit, fürsorglich und als Tatortanalyst, der an der Polizeiakademie unterrichtete, klug genug, ihr für ihren Job genügend Freiraum zu lassen. In der vorvergangenen Nacht hatte er sich stundenlang um den Kleinen gekümmert. Alex war definitiv nicht der Grund für ihre schlechte Laune.
Nach dem achtwöchigen Mutterschaftsurlaub und zwei Wochen langweiliger Büroarbeit war dies der erste größere Fall, den man ihr zugewiesen hatte, und endlich wieder im Außendienst arbeiten zu können war verlockend, also auch kein Grund.
Wie auch immer, sie wollte nicht darüber reden. Sie wollte einfach nur, dass anderen ihre miese Stimmung nicht verborgen blieb.
D.D. drängte sich durch die Menge der Gaffer am Straßenrand und zeigte dem uniformierten Kollegen, der vor dem Absperrband postiert war, ihre Marke. Routiniert trug er ihren Namen und ihre Kennnummer in seine Kladde ein. Daraufhin duckte sie sich unter dem gelben Band hindurch, schlüpfte mit den Schuhen in Plastikgamaschen, streifte sich ein Haarnetz über und stieg über abgetretene Holzstufen in das graue Mietshaus.
Der Tatort befand sich im ersten Obergeschoss: eine Einzimmerwohnung der untersten Kategorie. Das Opfer war eine männliche Person um die vierzig und, wie D.D. vermutete, der einzige Weiße im Umkreis mehrerer Blocks. Anscheinend hatte er allein gelebt. Nachbarn hatten die Polizei alarmiert und sich über den Gestank beschwert, der aus der Wohnung drang.
D.D. verabscheute solche Mietshäuser. Vier feuchte Wände, Lecks an der Decke und zugige Fenster – so sah für sie Verzweiflung aus. Sie verabscheute die schmierigen Typen, die ihr frivole Blicke zuwarfen und so fertig mit der Welt waren, dass sich selbst ein Bostoner Cop angewidert von ihnen abwandte. Leid taten ihr die eingefallenen achtzigjährigen Großmütter, die mit schweren Einkaufstaschen drei Etagen hochklettern mussten in Verschläge, die im Winter bitterkalt und im Sommer unerträglich heiß waren. Und das nackte Grauen packte sie bei den verwahrlosten Kindern, die im Alter von vier, fünf, sechs Jahren schon gelernt hatten, allen anderen, vor allem Polizisten, zu misstrauen.
Prekariat. Abgeschriebene Randgruppen. Egal, wie man solche Schichten nannte – solange es sie gab, sah sich D.D. daran erinnert, dass ihre Arbeit in vielerlei Hinsicht zu kurz griff.
Im vorliegenden Fall handelte es sich eindeutig um vorsätzliche Tötung. D.D. und ihr Team würden Ermittlungen aufnehmen müssen. Und für alle anderen in diesem Haus würde das Leben morgen genauso beschissen sein wie heute.
Sergeant Detective D.D. Warren hatte schlechte Laune. Aber über das Warum wollte sie nicht reden.
Ihr Teamkollege Neil erwartete sie auf dem Treppenabsatz. Er war gerade zweiunddreißig, schlaksig und hatte einen roten Haarschopf. Neil hatte als Sanitäter gearbeitet, bevor er beim Bostoner Police Department landete, und war deshalb der Mann für alle blutigen Fälle. Er hielt sich gerade ein Taschentuch vor Mund und Nase, was nichts Gutes verhieß.
Als er ihre Miene registrierte, zuckte er ein wenig zusammen.
«Das Baby?», fragte er vorsichtig.
«Hat nichts mit meiner Laune zu tun», schnappte sie.
Er stutzte. «Ist es wegen Alex?»
«Herrje …» Sie liebte ihr Team, und ihr Team liebte sie. Aber die Kollegen glaubten wohl, Alex müsse ein Heiliger sein, wenn er es aushielt, mit ihr zusammenzuleben. «Hat nichts mit meiner Laune zu
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