Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
dem Versuch, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Das war nicht einfach, denn so viel Gegreine war ihm noch nie untergekommen.
„Während man auf ein Organ wartet, dreht man nicht etwa durch“, sagte der Typ irgendwann. „Nein, man wird total hart. Ich weiß noch, wie ich am Krankenhausfenster stand und nach dem Hubi mit der Spenderleber Ausschau hielt. Tagelang, wochenlang, monatelang, von den Jahren vorher ganz zu schweigen. Ich hab darauf gewartet, dass ein Mensch stirbt, und möglichst ein junger, knackiger, der in der Blüte seiner Jahre steht, bitte schön.“
„Ein Motorradfahrer vielleicht, oder eine Abiturientin, die auf dem Radweg von einem Lkw überrollt wird“, sagte Chrissi.
„Oder jemand, der gleich nebenan liegt und gerade abkratzt“, sagte René bissig. „Eine junge Frau vielleicht, die das Leben noch vor sich hätte, oder eine, die älter ist als deine eigene Mutter.“
„Oder das“, sagte Olli. „Auf jeden Fall hab ich ohne Ende gehofft, und das Elend der anderen Familien war mir völlig egal. Na gut, nicht völlig egal. Aber ich hab mir eingeredet, dass ich meine neue Leber geschenkt bekomme, postum sozusagen, und dass ich sie dem Opfer zuliebe nicht nur annehmen kann, sondern sogar annehmen muss .“
„Richtig so“, sagte Claudi. „Geschenke darf man nicht ablehnen. Das gehört sich nicht.“
„Aber darf man auch glücklich darüber sein?“, fragte Olli und dachte einen Augenblick über diese Frage nach. Dann fuhr er fort: „Ehrlich gesagt war das alles Bullshit: die Ungewissheiten, die Zweifel, die Skrupel … Am Ende hab ich doch nur an mich gedacht und an sonst niemanden. Das sollte endlich aufhören. Nicht nur die Schmerzen, sondern auch, dass mein ganzes Leben verbrennt und ich nichts dagegen tun kann außer warten. Und das hab ich reichlich getan. Ich hab gewartet, dass ich endlich an der Reihe bin. Ich hab gewartet und gewartet und gewartet, bis der Arzt kommt.“
Ja, doch, das konnte René nachempfinden. Er verstand, was der Typ damit meinte. Ehrlich. Diese verdammte Warterei war für chronisch Kranke eine lästige Pflicht, die ihnen von Außenstehenden auch noch als Prozess der Reifung verkauft werden sollte, als konstruktive, sinnvoll genutzte Zeit der Einkehr, als Zwischenstopp auf dem Weg zum Happy End, sprich: zur Gesundung.
„Das mit den Unfällen passiert nun mal, man kann nichts dagegen machen“, sagte Claudi in dem hilflosen Versuch, Olli zu trösten. „Du musst dich nicht schuldig fühlen. Niemand musste extra für dich sterben.“
„Doch, irgendwie schon. Da konnte oder durfte ein Mensch keine Zeit mehr erleben, und ich bin ein Nutznießer dieser Tatsache.“
„Das mag ja sein, aber du solltest es nicht so nennen.“
„Aber ich profitiere von seinem Tod.“
„Du und ein paar andere.“
„Das stimmt. Manchmal stell ich mir vor, dass ich zufällig jemandem gegenübersitze, der das Herz des Spenders bekommen hat oder dessen Lunge … Ich hätte den Verstorbenen gern kennengelernt. Ein Teil von ihm ist jetzt in mir, und ich kann nicht mal Blumen auf sein Grab legen, weil ich nicht weiß, wer er war. Manchmal möchte ich alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu suchen. Aber dann lass ich es doch bleiben.“
Zu seinem eigenen Erstaunen und Unbehagen rutschte René bereits die ganze Zeit auf seinem Stuhl hin und her. Mehr noch, er spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Das durfte nicht sein.
„Ist auch besser so“, sagte er. „Nachher stellt du noch fest, dass der große Unbekannte ein Drogenhändler war, der sich im Gefängnis aufgehängt hat, oder eine Frau aus dem Rotlichtmilieu, die 20 Jahre lang anschaffen gegangen ist.“
„Aber vielleicht entspricht er doch dem Bild, das Olli sich von ihm gemacht hat“, sagte Claudia und sah ihn warnend an.
„Und was ist, wenn die Enthüllung ein Schock ist? Guckt euch doch mal um. Anderswo auf der Welt werden sogar die Todeskandidaten ausgeschlachtet. Ihr wisst, welchen Staat ich meine, ja?“
„René!“, sagte Claudia mit scharfer Stimme, aber er war nicht mehr zu bremsen.
„Eigentlich sollen die Gefangenen dort per Kopfschuss oder per Injektion getötet werden. Aber oft wird ihnen nur in die rechte Brustseite geschossen, damit sie noch leben, wenn man sie auf den Tisch packt. Und schon werden nebenan die Messer …“
„René, verdammt noch mal!“
„Oft werden ihre Organe auch an ausländische Touristen verscherbelt. Das Krankenhaus als Hinrichtungsstätte, und der Arzt als
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