Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Henker …“
„Das sind Schauergeschichten, die kein Mensch hören will“, sagte Claudi.
„Aber sie sind wahr, und die westliche Welt hängt voll mit drin, sei’s nun in der Forschung, auf dem Pharmasektor oder bei der Ausbildung von Ärzten. Und ich kann euch versichern: Da werden keine Fragen gestellt.“
„Kannst du nicht einfach! endlich! mal! den Mund halten!?“, rief Claudi, und ihr Gesicht zuckte in alle Richtungen .
„Letztlich ist bei mir ja alles gut gegangen“, sagte Olli, um Streitschlichtung bemüht. „Zehn Wochen nach der LTX konnte ich wieder arbeiten. Ich bin Steuerberater.“
Als wenn René das interessieren würde. Leider ermunterte Ollis Bericht auch Chrissi, sich ihm anzuvertrauen. Obwohl er sie weiß Gott nicht darum gebeten hatte.
„Bei mir lief das anders“, sagte sie zu ihm. „Wahrscheinlich hat Claudia dir schon erzählt, dass ich meinem Mann eine Leberhälfte gespendet hab. Nicht ganz freiwillig übrigens, zumindest sehe ich das heute so. Ich wurde von ihm und seinen Ärzten dazu überredet, und darüber bin ich immer noch entsetzt und empört. Wenn die Leute mich ansehen, tun sie so, als wenn nichts gewesen wäre, als wenn ich überhaupt keinen Grund hätte, mich zu beschweren. Wieso, dir geht’s doch gut, heißt es, du siehst toll aus und hast zwei gesunde Kinder. Aber ich fühle mich so ausgeschlachtet, und damals … damals … Da haben mich alle so angestarrt. Wenn man nicht gleich Ja und Amen zur Spende sagt, halten die Leute einen für ein herzloses Scheusal.“
„Dann kocht die Volksseele, und wie“, sagte Olli.
„Für den eigenen Mann muss man seine Innereien doch wohl mit Freuden hergeben, das ist die allgemeine Haltung“, fuhr Chrissi fort. „Aber so einfach ist das nicht. Bei einer Lebendspende kann es auch Schattenseiten geben, aber über die wird meistens geschwiegen.“
„Mein Reden“, sagte René, wenn auch widerwillig. „Ein Ehepartner ist kein Ersatzteillager, aus dem man sich nach Herzenslust bedienen darf. Zumal das Ganze ja keine Heilung bedeutet, sondern bestenfalls eine lebenslange Therapie, vielleicht sogar für beide. Und wenn das Organ wieder abgestoßen wird, war alles umsonst. Für ein paar Monate mehr auf der einen und viele Jahre weniger auf der anderen Seite. Tolle Gleichung, tolles Geschäft: Wenn man alle Verluste und Gewinne gegeneinander aufrechnet, landet man wieder bei null.“
„Warte mal ab, bis es dir richtig dreckig geht“, sagte Claudi. „Dann würdest du nicht so reden. Ich wünschte, du würdest dir ein einziges Mal vorstellen, wie es im umgekehrten Fall wäre. Was wäre, wenn ich Hilfe bräuchte? Würdest du mich einfach so verrecken lassen?“
René spürte, wie seine Hände feucht wurden, denn diesen Gedanken hatte er sich bisher verboten.
„Wie gesagt, ich hab mich damals so unter Druck gesetzt gefühlt“, fuhr Chrissi fort. „Im Grunde genommen war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht entscheidungsfähig. Aber das hat niemand gemerkt. Deshalb hab ich schließlich zugestimmt. Leider , muss ich im Nachhinein sagen.“
„Wieder mein Reden“, sagte René. „Kein Mensch darf das Schicksal eines anderen auf sich nehmen. Ich kann dieses Geschwafel von Ehre, Stolz und Man muss tun, was man tun muss nicht mehr ab. Es gibt einen Ausdruck für das, was du erlebt hast: Nötigung.“
„Da hast du leider recht“, sagte Chrissi, senkte den Blick und sah plötzlich ganz niedergeschlagen aus. „Versteht mich nicht falsch. Ich freu mich natürlich, dass es Organspenden gibt, aber insgesamt steh ich dem Ganzen auch kritisch gegenüber. Da gibt’s so viele Dinge, die mich irritieren und über die nie gesprochen wird. Über die postmortalen Spenden zum Beispiel. Einige Hirntote wollen sich bei der Organentnahme noch zur Wehr setzen.“
„Du nimmst mich auf den Arm, oder?“, fragte Claudi.
„Nein, es ist tatsächlich so“, sagte Chrissi und zog die Schultern hoch, als fröstele sie. „Jeder weiß, dass das nur Reflexe sind, aber es ist trotzdem schwer zu ertragen. Es gibt eben zwei Seiten, wenn es um Transplantationen geht: die schöne, edle, und die weniger schöne, schwer zu ertragende. Ich bin natürlich trotzdem dafür, dass die Leute Organspendeausweise ausfüllen“, fügte sie rasch hinzu.
Einen Moment lang war es still.
Dann seufzte Chrissi auf und fuhr fort: „Ein Jahr nach der OP hat mein Mann sich aus dem Staub gemacht. Mit meiner Leberhälfte und einem Großteil der Möbel. Nur die Kinder und das Auto
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