Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Tag lebte, als sei es der letzte, und der „dem Dasein das Mark auslutschen“ wollte, wie er es nannte?
Deshalb war sie fast froh, dass Ende Juni Haralds halbjährlicher Kontrollbesuch anstand und sie eine legitime Entschuldigung hatte, sich wieder ein Stück weit von René zurückzuziehen.
An diesem Tag musste sie mit Harald raus ins Feld gehen und ihm zeigen, was sie verkaufstechnisch alles drauf hatte. Das bedeutete, dass sie vorher mindestens acht Kundentermine vereinbaren und von A bis Z perfekt durchorganisieren musste. Das war eine gewaltige Herausforderung, denn Harald war als Vorgesetzter nicht leicht zufriedenzustellen.
Leider ging der Ärger an dem bewussten Tag schon damit los, dass Claudia morgens zwei Stunden vor dem Kleiderschrank stand und überlegte, was sie anziehen sollte. Wenn’s nach Harald ging, musste sie sich stets noch einen Tick feiner und offizieller kleiden als die anderen Vertriebsschnepfen. Hosenanzug, Pumps und Seidenbluse allein reichten nicht aus, wenn sie ihm unter die Augen trat. Er bestand zusätzlich noch auf kneifende Ohrclips, eine hochwertige Armbanduhr und eine lederne Aktentasche aus dem High-Price-Segment. Dabei sah er mit seinem Allerweltsschnauzer, dem Tweedjackett mit den Lederflicken auf den Ellenbogen und der albernen Fliege selbst wie ein Spießer aus.
Während der Tour pflegte er Claudia dann auf Herz und Nieren zu prüfen. Wie gut konnte sie verkaufen? Machte sie auch genug Umsatz? Welchen Eindruck hinterließ sie bei den Kunden? War sie nicht zu sachlich und nicht zu freundlich? Hielt sie dem Druck stand, wenn etwas nicht nach Plan verlief? Erfüllte sie ihre Umsatzvorgaben mit sauberen Verkaufsmethoden und wenn nötig auch mit unsauberen? Kurzum: Zeigte sie eine rundum einträgliche Leistung?
Na dann gute Jagd und fette Beute!, dachte sie, sie später mit Harald vor der Tür ihres ersten Kunden stand. Streng dich an, Alte! Mach keine Gefangenen! Geh hin und erleg das Mammut! Töte das Biest! Dann atmete sie tief durch, drückte die Klinke herunter und betrat das Büro.
Unterm Strich brachte sie an diesem Tag ein paar ordentliche Abschlüsse zustande, aber sie war trotzdem nicht zufrieden mit sich. Bei der anschließenden Manöverkritik in einem Café rechnete sie jeden Moment damit, dass Harald ihr vorwerfen würde, nicht skrupellos genug mit der Kundschaft umzugehen.
Aber das Einzige, über das er sich aufregte, war ihr Outfit. Er machte ihr unmissverständlich klar, was er davon hielt: „Also ehrlich, Claudia, in diesem Hosenanzug siehst du aus wie eine Schaufensterpuppe aus dem Billigkaufhaus. Das geht so nicht. Schließlich repräsentierst du hier auch das Unternehmen. Ein gepflegtes modisches Erscheinungsbild ist das Mindeste, was wir unseren Kunden bieten müssen. Wenn du hier weiter dein optisches Potenzial verschenkst, schick ich dich zum Imageberater, verstanden?“ Er fehlte nicht viel, und er hätte ihr noch drohend den Zeigefinger unter die Nase gehalten.
Du hast es gerade nötig, dachte sie wütend. Du siehst doch selbst aus wie eine Witzfigur aus dem Detektivroman. Und dann hältst du deine modischen Fehlgriffe auch noch für retro und stylish. Dass ich nicht lache! Wenn hier einer zum Imageberater muss, dann ja wohl du.
Da Harald die Nacht nicht im Hotel, sondern bei René und ihr verbringen wollte, musste sie ihn abends mit nach Hause nehmen. Auf dem Heimweg sackte ihre Laune immer weiter in den Keller. Und dann geriet sie mit ihrem Wagen auch noch in ein Fotoshooting, das vermutlich teuer werden würde. Natürlich nölte Harald sofort wieder los und hielt ihr vor Augen, was passieren würde, wenn sie ihren Führerschein verlor: Sie würde für die Firma untragbar werden.
Zu Hause dann der nächste Schock: René saß im Wohnzimmer, hatte sein Gipsbein auf dem Couchtisch deponiert und rauchte einen Joint, als wäre es das Normalste und Natürlichste auf der Welt. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass er es sich mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte und die Aufzeichnung eines Fußball-Länderspiels ansah.
Claudia verschlug es im ersten Moment glatt die Sprache. Ihr Mann rauchte oft, gern und viel Gras. Diese Tatsache hatte sie bereits mehr Nerven gekostet als alles, was Harald, der Job, die Politessen dieser Stadt und das Flensburger Punktekonto ihr je zugemutet hatten. Auch heute schien es ihm kein bisschen unangenehm zu sein, sich vor ihrem Chef zum Narren zu machen. Im Gegenteil, er hatte sogar noch
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