Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
meldete sich Renés Krankheit mit Pauken und Trompeten zurück. Mittlerweile hatte er 14 Stent-OPs hinter sich, und die mussten zum Teil sogar doppelt und dreifach ausgeführt werden, bevor es den Ärzten gelang, ihm das jeweilige Schlauchmodell einzusetzen und im Gallengang zu verankern.
Er litt jetzt oft unter Koliken, die er seinem ärgsten Feind nicht an den Hals wünschte und gegen die alle Medikamente machtlos waren. Manchmal hätte er vor Schmerzen am liebsten das Mobiliar zertrümmert, so sehr zeriss es ihn. Außerdem musste er sich ständig erbrechen, nur um gleich darauf wieder zu essen. Nicht mehr Astronautennahrung. Die lag ihm wie ein Klotz im Magen. Nein, normale Schonkost, die allerdings in Riesenportionen. Schließlich ging es ums Überleben. Also aß und aß und aß er, und wenn das Essen ausnahmsweise mal drinblieb, ging die Rülpserei los. Er rülpste und rülpste und rülpste, und die Wolken, die dabei aus seiner Mundhöhle quollen, stanken dermaßen nach Abwassergraben und Kanalisationsschacht, dass er die Wohnung alle fünf Minuten durchlüften musste.
Trotzdem versuchte er seiner Krankheit und dem Leben tapfer ins Auge zu blicken und probierte es mit verschiedenen Entspannungstechniken aus, über die er sich im Internet schlaugemacht hatte. Aber solange er keine tiefe Bauchatmung zustande brachte, waren all diese Techniken für die Katz.
Kein Wunder, dass er total fertig war und auch so aussah. Sein sattgoldenes, leicht rötliches Haar wurde inzwischen von dicken grauen Strähnen durchzogen, und die standen in krassem Gegensatz zu seiner schwefelgelben Gesichtsfarbe. Claudi hatte auch schon reichlich graue Haare, aber deren lichter Silberton passte hervorragend zu ihrem sonstigen Kolorit. Er dagegen war potthässlich, und nicht nur das. Er hatte auch keinen Job mehr, keine Perspektive und keine Kinder. Er konnte sich ja nicht mal um seine Eltern kümmern, krank, wie er war. Das musste Tanja allein machen, und sie beklagte sich niemals darüber. Auch in der Beziehung lastete eine halbe Tonne Schuldgefühl auf Renés Schultern.
Aber es half alles nichts: Er musste sich mit dem arrangieren, was von seinem Leben übrig geblieben war, und das war nicht wenig. Vor allem hatte er Claudi, und sie war das größte Geschenk überhaupt. Obwohl … An Sex mit ihr war kaum noch zu denken. Diese starke körperliche Anziehungskraft, die früher immer zwischen ihnen geherrscht hatte … Wo war sie bloß hin? Sie war weg, futsch, away. Die Marsianer hatten sie geholt.
Als Claudi an einem trüben Montagmorgen nach Dallas reisen musste, um an verschiedenen Seminaren zum Thema Umsatz, Absatz und Gewinnmaximierung teilzunehmen, ging sie ihm schon nach fünf Minuten ab. Sie fehlte ihm so, dass es fast körperlich schmerzte.
Abends rief sie ihn endlich an, erkundigte sich nach seinem Befinden und erzählte ihm dann von der Immigrationsprozedur in Dallas, die den Kollegen und ihr wieder jede Menge Geduld abverlangt hatte. Bevor sie das einstündige Gespräch beendete, verdrückte sie noch ein paar Tränen und warf ihm gefühlvolle Seufzer und schmatzende Kussgeräusche über die Leitung zu. Das war zwar nur eine Ersatzbefriedigung, aber es tröstete ihn tatsächlich ein wenig.
Am Donnerstag machte sich ein krankes, grummelndes und wundes Gefühl in Renés Magengegend breit, setzte sich dort fest und hinderte ihn an jeglicher Nahrungsaufnahme. Er konnte wirklich keinen einzigen Bissen mehr herunterbringen, und wenn er es doch tat, spie er ihn gleich wieder aus.
Während er es immer und immer wieder versuchte, beobachtete er sich im Spiegel und konnte es nicht fassen: Er hatte noch nie jemanden so essen sehen wie sich selbst. Er aß nicht, nein, er fraß. Dabei bückte er sich immer tiefer über den Teller und nahm sich kaum Zeit, die einzelnen Bissen durchzukauen. Während er die Gabel belud, bewegte sich seine Zunge in stummer Raserei von einem Mundwinkel zum anderen. Er wirkte wie ein gieriges Tier, das kurz vorm Verhungern war.
Dieser Anblick widerte ihn so an, dass er den Versuch schließlich abbrach und zu dem letzten Mittel griff, das er noch in petto hatte: dem Besuch bei Agnes Wendhorst. Das war die Geistheilerin, die am anderen Ende der Stadt wohnte und laut Zeitungsannonce die Selbstheilungskräfte eines Menschen aktivieren und sein Bewusstsein erweitern konnte.
René überlegte, wie die Frau wohl aussehen mochte. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie der Hutzelhexe Roswitha Wippermann glich, die
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