Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
wünschte sich in seinen morgendlichen Narkoseschlaf zurück, damit er nichts mehr hören und sehen und nicht mehr nachdenken musste. Da war diese Sehnsucht nach Stille in ihm, dieses Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit. Mehr noch, da wurde der Wunsch nach völliger Auslöschung in ihm wach. Wenn sein Leben in Zukunft nur noch sinnlos, kalt und leer sein würde, konnte er ebenso gut gleich in die Grube fahren. Dann wäre es endlich, endlich vorbei.
Aber leider konnte er nicht aufhören, in sich hineinzuhorchen und sich Fragen zu stellen.
Wieso hatte er nichts von Claudis entsetzlichem Geheimnis gewusst? War da schon immer diese Schlucht zwischen ihnen gewesen, diese unsichtbare Demarkationslinie, die sie beide nicht überschreiten konnten, er nicht und sie nicht? Und wieso hatten sie keine Brücke darüber gebaut? Nicht, wenn sie sich Zeit füreinander nahmen und lange und tiefschürfende Gespräche führten. Nicht, wenn sie sich bis aufs Blut stritten. Nicht mal, wenn sie gerade miteinander geschlafen hatten und glaubten, wie zwei offene Bücher voreinanderzuliegen und alles voneinander zu wissen. Nicht mal dann! War Claudi so sehr traumatisiert von der Geschichte, dass sie es nicht fertigbrachte, sich ihm anzuvertrauen? Brachten die Schuldgefühle sie fast um? Er hätte ihr doch niemals einen Vorwurf daraus gemacht. Wusste sie das denn nicht? Oder wusste sie es und wollte trotzdem nicht mit ihm darüber reden? Wie konnte das sein? Das war doch gegen alle Regeln.
Dann fiel ihm ein, dass er sie selbst zwei Jahre lang an der Nase herumgeführt hatte, statt ihr reinen Wein einzuschenken, und diese Erkenntnis zog ihn noch weiter in die Tiefe.
So lag er stocksteif, flach atmend und sich mit Fragen marternd da, bis Claudi, Mia und der Mann, dessen Namen er am liebsten für immer aus seinem Gedächtnis radiert hätte, sein Zimmer betraten.
Claudi fing sofort an, das zu tun, was auch seine Mutter in der Situation getan hätte: Sie hängte den Bademantel in den Schrank zurück und kehrte die Scherben und Blumen zusammen, um sie in den Mülleimer zu werfen. Dann wischte sie den Boden mit Papiertüchern notdürftig trocken, räumte seinen Nachttisch auf, brachte Handtücher in den Waschraum, wechselte seine Pyjamas und Unterhosen durch, sortierte die Zeitschriften auf dem Tisch … Am liebsten hätte sie ihm auch noch die Finger- und Fußnägel geschnitten.
„Ich hab gerade mit Wallin und Özil gesprochen“, sagte sie schließlich.
René räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Dann fragte er mit rauer Stimme: „Und? Worum ging’s?“
„Ich hab ihnen gesagt, dass du vom Klinikdach springst, wenn das hier nicht bald vorangeht.“
„Da hast du verdammt noch mal recht“, sagte er nur und raffte sich zu einer Bitte auf: „Tut ihr mir einen Gefallen, ihr beiden?“
„Ja klar“, sagte der Mann. „Welchen denn?“
„Bitte geht“, sagte er.
Claudi erstarrte, als habe er ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst.
„Okay“, sagte sie dann, drehte sich um und verließ mit Mia auf dem Arm und dem Mann im Schlepptau das Zimmer.
René blieb allein zurück, drückte seinen Kopf wieder in das Kissen und starrte an die Decke.
Kapitel 16: Vor siebzehn Monaten
„Na los, mach schon, schneid ihn ab“, sagte Claudia, rutschte unruhig auf dem Rollator hin und her und deutete auf ihren Pferdeschwanz. René saß hinter ihr auf dem Toilettendeckel und hielt die Nähschere und den Kamm im Anschlag, machte aber keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen.
„Deine schönen Haare“, sagte er nur.
„Weg damit! Dann bin ich morgens schneller mit dem Föhnen fertig und kann früher aus dem Haus gehen.“
„Willst du nicht lieber einen Friseurtermin vereinbaren?“
„Das würde ich ja gern, aber wir sind praktisch bankrott.“
Einen Moment lang war es still im Badezimmer. Dann schob René sich auf dem Toilettendeckel nach vorn, holte tief Luft und sagte: „Du Claudi, wo wir gerade von Geld reden … Es gibt da etwas, das ich dir sagen möchte.“
Sie ließ ihren Pferdeschwanz los, drehte sich mit dem Rollator herum und sah ihn fragend an.
„ Ich bin schuld, dass wir pleite sind“, fuhr er fort, senkte den Kopf und spielte mit dem Kamm und der Schere herum. „Ich war halt öfter mal bei ein paar Leuten.“
„Bei was für Leuten?“
„B ei so ’ner Esoterikschwester zum Beispiel. Aber die hat mir mit ihren Energiefeldern auch nicht helfen können. Genauso wenig wie der Schamane mit
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