Der Tag, an dem meine Frau Gott spielte
Chefarzt gar nicht zugetraut hätte. Aber Claudia erwies sich einmal mehr als Vollprofi und beantwortete sie ausführlich und souverän. Sie erzählte den Leuten einfach alles, was sie hören wollten, und das tat sie so überzeugend, dass bei ihnen keine Zweifel bezüglich ihrer Spendenbereitschaft und -fähigkeit aufkamen. Im Gegenteil, sie schienen die größte Hochachtung für Claudias Entscheidung zu haben und entließen sie am Ende mit der glücklichen Gewissheit, keinen Sprung in der Schüssel zu haben.
Nachdem sämtliche Untersuchungsergebnisse vorlagen und von allen möglichen Ärzten und Ausschüssen gedreht und gewendet worden waren, kam die alles entscheidende Nachricht: Jawohl, Claudia war als Spenderin geeignet. Die Transplantation konnte also angegangen werden. Es wurde sogar schon ein Termin festgesetzt. Was bedeutete, dass die Ärzte in drei Wochen in ihr Innerstes vordringen, in ihren Eingeweiden herumwühlen und die Hälfte ihrer Leber wegschneiden würden.
In drei Wochen bereits.
Das war der Zeitpunkt, an dem Claudia begriff, dass es ernst wurde. Es ging jetzt nicht mehr um eine theoretische Möglichkeit oder eine vage Absichtserklärung. Nein, es würde tatsächlich passieren, und sie war daran beteiligt.
Vielleicht lag es an dem schmerzenden Loch in ihrem Kiefer, aber sie fühlte sich plötzlich wie eine wund geschrabbelte Schachfigur, die von fremden Mächten auf einem fremden Spielfeld hin und her geschoben wurde und keinen eigenen Willen mehr hatte und haben durfte.
Selbst das Krankenhausumfeld kam ihr bedrohlich vor. Dabei hatte sie sich dort schon fast wie zu Hause gefühlt. Es hatte etwas von einem Gletscher an sich, zumal die Schwestern eine Freundlichkeit an den Tag legten, die sie erschaudern ließ, und ihre Bettdecke so dünn war, dass sie ständig fror.
Oder fror sie nur, weil sie Angst vor der OP hatte? Auch das war möglich. Ob dabei auch wirklich nichts schieflaufen würde? Und wer konnte ihr sagen, wie lange es danach dauern würde, bis sich ihre Gedärme und Organe wieder richtig sortiert hatten, von dem Heilungsprozess der Riesenwunde ganz zu schweigen?
Da waren auf einmal so viele Fragen, und die kühlten ihr das Blut herunter, bis es fast in den Adern gefror. Sie fühlte sich so … kaltgestellt.
Aber weil René so schnell wie möglich eine neue Leber brauchte, schluckte sie ihre Angst energisch herunter und gab sich nach außen hin ruhig, gefasst und optimistisch. Er durfte nichts von ihren wahren Gefühlen erfahren, sonst würde er die Sache doch noch abblasen, und sie musste wieder sehr viel Überzeugungsarbeit leisten, bis sie ihn da hatte, wo er vorher war. Und Mia, ihre süße Mia, sollte ebenfalls nichts davon bemerken. Sie wollte ihr eine fröhliche Mami sein, bis … ja, bis der Tag X gekommen war.
Der Chirurg, der die Entnahme-OP an Claudia vornehmen würde, hieß Doktor Liebe, hatte blond zerzauste Surferhaare und war gerade mal 13 Jahre alt. Er hätte ihr Sohn sein können. Außerdem war er eine wahre Frohnatur, denn als René und sie ihm beim Vorgespräch gegenübersaßen und ihn fragten, wie er sich denn auf die langwierige, doch recht heikle OP vorbereiten würde, rief das nur ein amüsiertes Staunen bei ihm hervor.
„Gar nicht“, sagte er. „Bei uns geht es zu wie in einer Tischlerei. Wir hämmern, fräsen und sägen den ganzen Tag am lebenden Werkstück herum. Da brauchen wir keine Schritt-für-Schritt-Anleitung aus dem Lehrbuch für Holzverarbeitung mehr. Das läuft auch so wie am Schnürchen.“
Da schloss Claudia für einen Moment die Augen und spielte mit der Zunge an ihrem wummernden Kieferloch herum. Sie hoffte nur, dass dieser junge Tischler wusste, was er tat, und dass er kein Sarg tischler war. Außerdem betete sie inbrünstig, dass sie selbst einen halbwegs intelligenten Gesichtsausdruck machte, als er sich weiter über ihre naive Frage beölte. Aber wahrscheinlich sah sie aus wie René. Als sie die Augen wieder öffnete und ihn anblickte, war seine Visage verzerrt, als sei ihm gerade etwas Schweres auf den Kopf gefallen.
In den letzten Tagen vor der OP wurde Leo, der sich bisher als der faulste Sack Deutschlands bezeichnet und damit sogar noch kokettiert hatte, zu Claudias und Renés wichtigster Stütze.
Er kam jetzt jeden Morgen mit dem Fahrrad die vier Kilometer zu den Schlegelterrassen hochgefahren, und das war eine gewaltige Herausforderung, denn während der letzten zwei Kilometer musste er 100 Höhenmeter überwinden. Das zehrte
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