Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
hatte meine Vorgeschichte damit zu tun? Viele freundlich gehaltene Absagen. Textbausteine. Bemerkenswert: Bei einer Absage fand ich in meinem zurückgesandten Lebenslauf einige Passagen dick unterstrichen. Genau die wenigen Zeilen, in denen stand, was ich in den Jahren zuvor so erlebt hatte. Ich hätte sofort persönlich dort hingehen sollen, um sie zur Rede zu stellen. Damals konnte ich so etwas aber nicht; Ich war es ja nicht mehr gewöhnt, meine Interessen durchzusetzen. Monate vergingen, nichts ging. Es war zum Verzweifeln.
Ein halbes Jahr nach meiner Heimkehr, im Frühjahr 1985, bekam ich den Tipp, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg an einer Kollegschule zu machen, um dann noch zu studieren. So etwas hatte ich bis dahin schon wegen der Finanzierung meines Lebensunterhaltes noch gar nicht in Betracht gezogen. Ich bekam schnell heraus: Das war genau das Richtige für mich.
Ab Herbst 1985 besuchte ich also das Hannover-Kolleg, um das Abitur nachzuholen. Die Zeit dort hat mir sehr geholfen, in ein normales Leben zurückzufinden. Alle meine Mitschüler waren erwachsene Leute, die einen Bruch im Leben erlebt hatten, etwas Neues machten. Jeder hatte eine andere Vorgeschichte. Natürlich hatte keiner eine so spektakuläre wie ich, aber immerhin. Mein Leben begann sich zu normalisieren. Nach und nach konnte ich vieles nachholen, was bis dahin unmöglich gewesen war. Aber die verlorenen Jahre konnte das natürlich nicht wettmachen.
Inzwischen wohnte ich nicht mehr bei meinem Bruder. Er hatte mit seiner Freundin ein Kind bekommen und war mit einem befreundeten Elternpaar in eine Land-WG in den Nachbarort gezogen. Von da an lebte ich viele Jahre in verschiedenen Wohngemeinschaften. Ein weiterer Schritt in die Selbständigkeit.
Meine Befürchtung, nach meiner Rückkehr nach Hannover würde ich meine Oma in Ahlbeck nicht mehr wiedersehen, bewahrheitete sich. Im Verlaufe des Jahres 1986 ging es ihr immer schlechter; irgendwann konnte sie keine Briefe mehr schreiben. Sie lag wochenlang im Krankenhaus in Heringsdorf. Im Herbst durfte meine Mutter sie noch einmal dort besuchen. Sie wurde in einem Barkas dorthin transportiert, wie eine Schwerverbrecherin in Handschellen, und durfte eine Stunde lang am Krankenbett verbringen. Eine furchtbar schwere Erfahrung für meine Mutter. Meine Oma durfte es nicht mehr erleben, ihre Tochter wieder in Freiheit zu wissen. Im Dezember 1986 starb sie. Nun war nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter meiner Mutter verstorben, während sie in Haft war.
Ich konnte von Hannover aus nichts anderes machen als schreiben und versuchen, Trost zuzusprechen. Während mein Leben langsam normale Formen annahm, änderte sich für meine Eltern nicht viel. Sie saßen fest, nichts rührte sich. Die Schreiben, die ich an das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen verfasst hatte, wurden nur immer im gleichen Tonfall beantwortet, der keine Hoffnung auf ein baldiges glückliches Ende machte. „Ihr Fall ist uns in allen Einzelheiten bekannt. Wir können zurzeit nichts tun. Wir müssen die Entlassung Ihrer Eltern abwarten.“ Immer nur warten, warten, warten.
Meine Mutter war nun Alleinerbin des Hauses in Ahlbeck. Es gab die Idee, mein Onkel Günter könnte sich als Lehrer dorthin versetzen lassen und das Haus übernehmen. Aber das klappte nicht. Gleichzeitig gab die Stasi meiner Mutter zu verstehen, dass sie keine Chance hätte, die DDR zu verlassen, solange sie dieses Haus besitze. Diese Möglichkeit bestünde nur nach einem Verkauf des Hauses. Meine Mutter saß in Bautzen und hatte keine Chance, die Situation einzuschätzen. Ein Leben in der DDR war unvorstellbar und so entschloss sie sich schweren Herzens, das Haus zu verkaufen. Es ging dann tatsächlich für einen Spottpreis weg. Ich mag gar nicht daran denken, was dieses Haus heute wert ist – in einem der bekanntesten deutschen Ostseebäder, drei Minuten zu Fuß zum Strand! Die DDR hat meine Mutter quasi enteignet. Eine Rückgabe wurde später abgelehnt, weil der neue Eigentümer es angeblich in gutem Glauben gekauft habe. Wer weiß? Nichts ist nachweisbar. Leider. Damit war für meine Mutter auch das letzte Stückchen Heimat in der DDR verloren.
Wie es meinen Eltern gesundheitlich ging, konnten wir allenfalls erahnen. Ein Gefängnis ist kein Sanatorium. Schon gar nicht ein berüchtigtes Stasi-Gefängnis. Meine Mutter litt schon lange unter Bluthochdruck, hatte während der Haft einige Herzanfälle, zum Glück keine Infarkte. Mein Vater litt
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