Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
sofort nach der Arbeit bei mir vorbeikommen. Ich hatte vor, zum Abschied mit ihm und seiner Schwester noch einmal groß im Restaurant „Prag“, gleich unten bei uns im Haus, essen zu gehen.
Es wurde ein sehr schöner Abend mit Peter und seiner Schwester Grit, der natürlich von leichter Abschiedswehmut geprägt war. Wann würden wir uns wiedersehen? Würden wir uns überhaupt jemals wiedersehen? Was würde die Zukunft für uns alle bringen? Grit gab mir noch die Adresse ihres Verlobten, damit ich ihr über seine Adresse schreiben konnte. Er hatte West-Verwandte, da fiel es nicht weiter auf, wenn auch noch Post von mir kam. Ihr Vater war ja Musiker beim Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“; er hätte Probleme bekommen können, wenn seine volljährigen Kinder Briefe von mir erhielten. Ich selbst würde in Hannover auch eine andere Adresse benutzen. Das sollte auch in den folgenden Jahren einigermaßen klappen.
Der nächste Morgen. Es gab nur diesen einen Zug an diesem Tag. Und die Zeit war sehr knapp. Bei der Polizei müsste es schon sehr schnell gehen, damit ich es noch mit der S-Bahn nach Schönefeld schaffen würde. Also mit zwei schweren Koffern ins Polizeipräsidium. Es war voll! Mist, ich schaffe es nicht. Was passiert dann? Was für Probleme bekomme ich, wenn ich erst einen Tag später fahren könnte? Behalten sie mich gleich da?
Nach einer Ewigkeit, wie es mir erschien, erhielt ich endlich die Papiere: Die lang erwartete Entlassung aus einer Staatsbürgerschaft, die ich eigentlich nie hätte erhalten dürfen. Meinen blauen Personalausweis zogen sie ein. Dafür bekam ich eine Identitätsbescheinigung, also eine Art Ersatzausweis mit einem besonderen Stempel. Das Visum war gültig zur einmaligen Ausreise nach der BRD über die Grenzübergangsstelle Marienborn bis zum 09.10.84, also noch am gleichen Tag! Für die DDR war ich in diesem Moment ein Staatenloser.
Eilig verließ ich die Polizei; ich musste ganz schnell zur S-Bahn! Aber draußen stand Peter. Er hatte sich mal eben krankgemeldet. Er wolle mal diese Papiere für die Ausreise sehen, sagte er knapp. Meine Rettung. Mit seinem Trabi konnten wir es schaffen. Er fuhr mich nach Schönefeld, holte alles aus seiner „Pappe“ heraus, damit ich den Zug rechtzeitig erreichen konnte. Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges erreichten wir den Bahnsteig. Geschafft! Für lange Überlegungen war keine Zeit. Der Zug fuhr ein, und ich stieg ein. Ein letztes Winken, der Zug setzte sich in Bewegung.
Ich hatte vorher schon die Befürchtung, dass jeder gleich sehen würde, dass ich ein „Ausreiser“ wäre, schon weil ich nicht im Rentenalter war. Meine Überraschung war groß: Der Zug war voll von Menschen aller Altersgruppen. War ich wohl doch nicht der einzige Jüngere, der mit diesen Zug in den Westen fuhr? In Magdeburg änderte sich das aber schlagartig. Alle Jüngeren verließen den Zug, nur noch Rentner blieben übrig. Sie wunderten sich, dass ich drin sitzen blieb und nicht ebenfalls ausstieg. An der Grenze bei Marienborn wieder diese Uniformen. War alles in Ordnung oder würden sie mich aus irgendwelchen Gründen aus dem Zug herausziehen? Das Misstrauen stieg schon wieder in mir hoch. Um mich herum nur ältere Leute mit grünen oder blauen Pässen. Ich nur mit diesem dünnen Lappen. Als die anderen Fahrgäste meine Papiere sahen, lächelten sie mir ermunternd zu: Sie hatten verstanden. Die Kontrolle erfolgte völlig problemlos. Keine Schwierigkeiten, kein Kommentar. Ein Aufatmen ging durch den Zug, als der Zug die Grenze passierte. Eine Riesenlast fiel von mir ab. Ich verspürte eine große Genugtuung: Ich hatte es doch noch geschafft! Nach all den Jahren. Endlich zurück. Fünfeinhalb Jahre lang war ich DDR-Bürger gewesen. Nun endlich weg aus diesem Staat, der uns so ins Unglück gestürzt hatte. Wie die Zukunft aussehen würde, war noch unklar, aber es würde sich schon finden. Es würde schwer werden, das war klar, Euphorie war erst einmal fehl am Platze. Aber der größte und schwerste Schritt in eine bessere Zukunft war getan. Das lautstarke Rattern der Räder hörte auf, der Zug fuhr schneller. Alles um mich herum wirkte heller, befreiter. Ein Wägelchen wurde am Abteil vorbeigeschoben, Getränke und Snacks. Die anderen, älteren, Fahrgäste sprachen mich an, steckten mir ein wenig Geld zu. Sie sagten, ich solle es ruhig annehmen, ich würde es brauchen können, wenn ich eine Bus-Fahrkarte kaufen muss. Es war mir fast peinlich, das anzunehmen,
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