Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
seit 1986 unter Gallensteinen, was sehr schmerzhaft sein kann, aber auch schon damals leicht zu behandeln war. Wenn man es behandelt. In einem Brief im September 1987 teilte mein Vater uns per Brief mit, er würde in den nächsten Tagen in das Haftkrankenhaus nach Leipzig-Meusdorf gebracht werden, weil ein kleiner Eingriff notwendig geworden wäre. Tatsächlich waren seine Gallensteine ein Jahr lang nicht behandelt worden – bis durch die Verstopfung der Gallenwege Lebensgefahr bestand. Was für Schmerzen muss er gelitten haben? In dem Brief versuchte er, uns zu beruhigen, er spielte es herunter, aber ein Krankenhausaufenthalt bietet immer Grund zur Sorge. Anfang Oktober erreichte uns ein weiterer Brief von ihm, den er nach seiner Operation geschrieben hatte. Er strahlte sehr viel Zuversicht aus, machte Pläne für die Zukunft – im Westen natürlich. Alles schien gut verlaufen zu sein, uns fiel ein großer Stein vom Herzen.
Am 19. Oktober lag in meinem Briefkasten ein Brief meiner Mutter. Sehr komisch, ihren monatlichen Brief hatte ich schon erhalten, dieser war außer der Reihe gekommen. Ich hatte gleich ein ganz seltsames Gefühl. Zufällig war an diesem Tag mein Bruder bei mir zu Besuch. Er fragte: „Was ist los? Ist was Schlimmes passiert?“ Ich hatte den Brief schon im Aufzug geöffnet, der Schrecken stand mir ins Gesicht geschrieben.
„Das Schlimmste!“
Meine Mutter schrieb:
„Bautzen, den 14.10.87
Mein lieber, lieber Thomas!
Heute muss ich Dir etwas sehr schlimmes mitteilen; Euer Vater ist vor 2 Tagen verstorben. Man hat immer gedacht, schlimmer wie es seit Jahren für uns ist, kann es nicht werden, aber es kann noch immer Schlimmeres passieren. Es ist auch für Euch ganz furchtbar, aber weißt Du, wie verzweifelt ich bin? Was soll aus mir werden? Seit ich gestern die Nachricht erfuhr, bin ich mit Beruhigungsmitteln vollgestopft; anders würde ich diese Situation wohl auch gar nicht ertragen. Ich möchte Dir eigentlich ganz anders schreiben, aber ich soll es Euch ‚sachlich‘ mitteilen. Den letzten Brief von Papa erhielt ich auch gestern. Er wurde am 30.9. operiert. Die Operation war schwerer als angenommen, dauerte 4½ Std. Er hatte Gallensteine in der Galle und in den Gallenwegen. Trotzdem hatte er sich nach der Operation schon etwas erholt und dann bekam er plötzlich eine Embolie (Blutgerinnsel) und es war schnell vorbei. Der letzte Brief war auch furchtbar für mich. Er war wie immer so voller Hoffnung, er wollte mit mir einen Erholungsurlaub im Weserbergland machen. Jetzt bin ich allein, für immer. Dieses niemals ihn wiedersehen ist wirklich schlimmer als LL. … Ich lebe nur noch in der Hoffnung, Euch wiederzusehen, obwohl ich auch manchmal Angst habe, Euch zur Last zu fallen. Ich grüße Dich ganz herzlich, mein lieber Thomas,
Deine Mama“
Meine Mutter war nun allein in der Gewalt dieser Verbrecher. Sie hielt die folgende Zeit nur mit Hilfe von stärksten Beruhigungsmitteln durch. Nach Vater und Mutter war nun auch noch ihr Mann gestorben. Ich musste ihr sofort antworten:
„Hannover, den 20.10.1987
Liebe Mama!
Gestern bekam ich Deinen Brief mit der schrecklichen Nachricht. … Das ist so etwas Unglaubliches, dass ich es noch gar nicht richtig fassen kann. … Papas Tod ist so unwirklich; gestern, als wir erst einmal an die frische Luft gingen, erschien mir plötzlich alles so fremd, als wenn ich das alles das erste Mal sehen würde; immer mit dem Gedanken, dass Papa das nie mehr wird sehen können. Dabei hatte ich so eine Mischung aus Trauer, Wut und auch Hass.
Heute kann ich wieder, obwohl ich immer noch total schockiert bin, einigermaßen klar denken und meine allergrößte Sorge bist nun Du. Ich kann Dir total nachfühlen, wie es Dir jetzt geht. … Seit gestern tauchen, wenn ich mal wieder in Gedanken versinke, die Bilder von Bautzen auf, wie es jetzt dort sein wird, also nicht meine eigenen Erlebnisse. Ich möchte Dir damit sagen, dass ich in Gedanken Dir ganz nahe bin. Hier sind viele Menschen, die an Dich denken und hoffen, dass Du diesen schwersten aller Schläge einigermaßen verkraftest und bis zum Ende der Zeit in der DDR aushältst. Ich bin eigentlich davon überzeugt, dass wir uns in nicht allzu ferner Zeit wiedersehen, gerade nachdem Papa gestorben ist. Was hätte das alles noch für einen Sinn? Wer soll denn noch bestraft werden? Alles andere wäre unlogisch, obwohl man bei Politik wohl lieber nicht von Logik sprechen sollte. Ich kann Dich nur immer inständig
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