Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie
war, etwas mitzunehmen. Es war ja im Westen ohnehin nichts wert. So kaufte ich mir im „Exquisit“ ein paar überteuerte modernere Sachen. Nicht gerade der letzte Schrei, aber tragbar.
Nach zwei Wochen war der Laufzettel komplett; ich ging wieder zum Rat des Stadtbezirks. Die Sachbearbeiterin prüfte kurz. Alles war in Ordnung. Sie sagte, es würde noch eine gewisse Bearbeitungszeit dauern, dann käme wieder ein Brief. Zeit, meine Oma in Ahlbeck noch einmal zu besuchen. Ich konnte mir schon vorstellen, dass dies wahrscheinlich die letzte Gelegenheit sein würde, sie noch einmal zu sehen. Zu erwarten war ein langjähriges Einreiseverbot in die DDR.
„Sie können das gerne machen. Lassen Sie die Adresse Ihrer Oma da, wir schicken Ihnen dann ein Telegramm, wenn Sie zurückkommen sollen. Es wird wahrscheinlich noch gut eine Woche dauern.“ Was für ein Service! War das die gleiche DDR, die mir das Leben so schwer gemacht hatte?
Einen Tag später machte ich mich mit der Bahn auf den etwas mühseligen Weg nach Ahlbeck. Umsteigen in Züssow, einem kleinen Kaff irgendwo im Nichts, in eine Bimmelbahn nach Wolgast. Zu Fuß über die Peene zum Bahnhof auf der Insel Usedom. Rein in die Bimmelbahn mit der lauten, stinkenden Diesellok an der Spitze. Endlich erreichte ich die Endstation, Ahlbeck.
Meine Oma hatte sich natürlich in den letzten drei Jahren verändert. Mein Opa war gestorben; sie war komplett schwarz gekleidet, sah etwas verhärmt aus. Ich wollte sie ein wenig beruhigen, was die Gründe unserer Haft anging. In Ahlbeck gingen wohl die wildesten Gerüchte um, dass zum Beispiel „Hochstapelei“ im Spiel sei, was auch immer darunter zu verstehen war. Ich konnte die Befürchtungen meiner Oma zerstreuen und ihr sagen, dass wir uns nicht zu schämen brauchten, dass wir ja nur nach Hannover zurück wollten. Wie lange meine Eltern noch zu sitzen hätten, sagte ich ihr lieber nicht. Dass sie nicht einmal das erfahren hatte! Sie fragte natürlich danach, aber ich erklärte ihr nur, dass ich keine Ahnung hätte, da unsere Verfahren getrennt worden waren. Sie war ein klein wenig beruhigt, machte sich aber nach wie vor große Sorgen um uns. Die folgenden Tage nutzte ich dazu, meiner Oma im Haus zu helfen, mit ihr Spaziergänge zu unternehmen. Sie schrieb für mich auch noch eine Erklärung, dass sie nicht auf meine Hilfe angewiesen sei. Das sollte ich nach Berlin mitbringen, damit auch diese letzte Hürde beseitigt war. Wie absurd: Die Sorge um meine Großeltern war doch der Grund gewesen, mit der wir offiziell vom Westen in den Osten übergesiedelt waren!
Tatsächlich, nach einer Woche erhielt ich in Ahlbeck das erwartete Telegramm: Ich sollte auf dem schnellsten Weg nach Berlin zurückkommen. Am nächsten Tag fuhr ich zurück. Es war ein sehr trauriger Abschied. Meine Oma habe ich an diesem Herbsttag das letzte Mal gesehen.
Zurück in Berlin. Im Briefkasten wieder ein Brief vom Rat des Stadtbezirkes.
„Werter Herr Raufeisen! In Ihrer persönlichen Angelegenheit werden Sie gebeten, sofort nach Erhalt im Berolinahaus, Alexanderplatz 1, Abteilung Innere Angelegenheiten, Zimmer 208, zu erscheinen.“ Konnten sie so freudige Nachrichten nicht etwas weniger prosaisch formulieren?
Ich hatte Ahlbeck etwas überstürzt verlassen; es war Samstag; die Behörde öffnete natürlich erst am Montag wieder. So „durfte“ ich am Sonntag, dem 7. Oktober, den 35. Jahrestag der DDR erleben. Die Straßen waren voll mit roten und DDR-Fahnen. Die Wohnhäuser waren ebenfalls übersät mit Fahnen. Überall aus den Fenstern und von den Balkonen hingen sie herunter. Besonders in der Leipziger Straße, wo viele linientreue Leute wohnten. An unserem Haus war nur eine einzige Stelle ohne diesen besonderen Schmuck. Unser Balkon.
Am Montag im Berolinahaus erhielt ich die notwendigen Bescheinigungen. Am nächsten Tag sollte ich beim Polizeipräsidium in der Keibelstraße meinen Personalausweis abgeben und meine Ausreisepapiere erhalten. Ausreise gleich am nächsten Tag, also am 9. Oktober 1984. Endlich würde ich in meine Heimat zurückkehren können! Ich brauchte eine Fahrkarte. Die Sachbearbeiterin sagte noch, ich dürfte nicht über West-Berlin fahren, nur ein sogenannter Interzonen-Zug kam infrage. Den konnte ich nur in Berlin-Schönefeld besteigen.
Auf der Post sandte ich sofort ein Telegramm an meinen Bruder, damit er mich vom Bahnhof abholen würde. Ich durfte kein Geld mitnehmen. Von einer Telefonzelle aus rief ich Peter an. Er wollte
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