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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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bitten: Halte durch, wir brauchen Dich noch! Genauso wie Du uns brauchst! Dein Zuhause ist hier bei uns in Hannover und komm bitte bitte nicht auf den absurden Gedanken, dass Du uns hier zur Last fallen könntest! Du hast uns so viel in unserem Leben gegeben und wirst uns noch soviel geben, Du darfst Dich einfach nicht aufgeben.
    …
    Es grüßt Dich ganz herzlich
    Dein Thomas“
    Als besonderes Problem erwies sich die Beerdigung meines Vaters. Er sollte nach Meinung der DDR-Behörden in Berlin oder in Gera, wo seine Schwester wohnte, bestattet werden. Meine Mutter verweigerte die Zustimmung, die DDR war für uns alle keine Heimat. Für sie kam nur Hannover in Frage, wo wir Söhne waren und wo sie selbst hinwollte. Nach langen Hin und Her wurde tatsächlich nach einem halben Jahr die Erlaubnis zur Überführung in den Westen erteilt. Allerdings würde eine Überführung nur in einer Urne möglich sein, hieß es. Meine Mutter stimmte also zu. Ost-West-Überführungen nur in einer Urne? In Hannover beim Friedhofsamt wollten sie außer einiger Angaben zur Person nur noch wissen, ob mein Vater in einem Sarg oder einer Urne kommen würde. Es gab also doch die Wahl? Was sollte hier vertuscht werden? Asche kann man nicht obduzieren! So erhielt mein Vater ein Urnengrab auf dem Friedhof Hannover-Seelhorst.
    Selbst nach dem Tod ihres Mannes, der doch der „Haupttäter“ in unserem Verfahren gewesen war, wurde meine Mutter nicht vorzeitig entlassen. Ich schrieb Briefe an die ostdeutschen Behörden, auch an Anwalt Vogel in Ostberlin. Nichts, keiner half uns. Das verstand nun wirklich keiner mehr. Nicht einmal die Wärterinnen in Bautzen II, wie mir meine Mutter später erzählte. Noch elf Monate bis zum letzten Tag ihrer sieben Jahre verbrachte sie dort. Am 9. September 1988 öffnete sich auch für sie das Gefängnistor. Sie wurde von ihrer Schwägerin und einem Neffen abgeholt und nach Berlin in unsere immer noch bestehende Wohnung gebracht. Meine Tante blieb noch eine Woche bei ihr. Auch meine Mutter ließen sie – wie mich vier Jahre zuvor – im Ungewissen über ihre Zukunft. Sie sollte am Fahrkartenschalter der Berliner S-Bahn-Station Alexanderplatz arbeiten. Sie würde ganz viel mit Menschen zu tun haben, müsste Auskünfte erteilen, Fahrkarten verkaufen und so weiter. Keiner von diesen Bürokraten verschwendete einen Gedanken daran, wie es einem Menschen nach sieben Jahren Haft gehen mag. Meiner traumatisierten Mutter war diese Arbeit unmöglich. Zum Glück akzeptierten sie ihre Ablehnung. Genug Geld besaß sie erst einmal durch die Rücklage aus der Haft und die Erbschaft von ihren Eltern.
    Bezüglich ihrer Ausreise jedoch bewegte sich nichts. Immer wieder forderte sie ihre Rückkehr nach Hannover. Sie schickte uns ständig Pakete mit Hausrat, den sie behalten wollte.
    Ein gutes halbes Jahr nach ihrer Entlassung erreicht mich dann eine Postkarte meiner Mutter, darauf eine Dampflok und der Schriftzug „Ich komme“.
    „19.4.89
    Mein lieber Thomas, ich komme zu Euch! Nach so vielen Jahren darf ich Euch endlich wiedersehen. Am 28.4. werde ich vormittags hier abfahren. Endlich ist es so weit. Ich schicke noch Telegramm.
    Viele liebe Grüße
     
    Deine Mama“
     
     
    In der ihr verbleibenden Woche hätte sie nun ihren Laufzettel abarbeiten und unsere Wohnung in der Leipziger Straße in Berlin auflösen müssen. Das hätte sie nie geschafft. Freunde, die sie in der Haft kennengelernt hatte, sprangen ein. Sie erklärten sich schriftlich bereit, für meine Mutter die Wohnung in den folgenden Wochen aufzulösen. Damit war das letzte Hindernis weggeräumt. Es konnte losgehen.
    Nach siebeneinhalb bzw. viereinhalb Jahren trafen mein Bruder und ich unsere Mutter dann am 28. April 1989 wieder. Das erste, was mir auffiel, war ihr fürchterlicher Berliner Dialekt. Der schliff sich aber innerhalb kurzer Zeit ab. Mein Bruder besaß zu der Zeit eine eigene kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, in der meine Mutter fürs erste unterkam.
    Sie hatte es sehr viel schwerer als ich, wieder mit dem Leben klarzukommen. Sie war schon 59, hatte sieben Jahre im Gefängnis verbracht und während dieser Zeit bis auf ihre Söhne alle Angehörigen verloren. Trotzdem musste es weitergehen. Am liebsten wäre sie nach der langen Trennung mit Michael und mir auf Dauer zusammengezogen. Wir konnten ihr aber recht schnell klarmachen, dass das weder für sie noch für uns eine gute Lösung gewesen wäre. Wir lebten schon lange unser eigenes Leben. Sie musste lernen,

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