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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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andererseits aber war ich auch ganz froh: Wer weiß, ob mein Bruder am Bahnsteig stehen würde.
    Hannover in Sicht, endlich zurück in der Heimat! Mein Bruder wartete natürlich auf dem Bahnsteig. Wir fielen uns in die Arme.
    „Endlich sehen wir uns wieder, nach all den Jahren.“

Zurück im Leben
     
    Mein Bruder wohnte inzwischen wieder in Ahlem, wo wir bis Januar 1979 gewohnt hatten, in einer WG mit zwei Mitbewohnern. Mein Bruder meinte, es gäbe noch eine kleine Überraschung für mich. Für den Nachmittag hätte sich Besuch angekündigt. Mein Bruder hatte neue Freunde gefunden. Vor fast einem halben Jahr hatte er Henry kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Ich kannte Henry aus dem Knast. Wir hatten uns oft über Hannover unterhalten. Er hatte Freunde da. Nach seiner Entlassung in den Westen wollte er sich dort niederlassen. Seine Frau Christine hatte im Frauengefängnis Hoheneck gesessen. Ihre Straftaten bestanden darin, zwei Ausreiseanträge gestellt und ihren Ausreisewunsch mit einer kleinen Demonstration vor dem Gebäude des Rates der Gemeinde unterstrichen zu haben. Wegen „Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit im schweren Fall“ hatten sie zweieinhalb Jahre erhalten, wurden dann aber relativ schnell vom Westen freigekauft. Ein halbes Jahr vor mir hatten sie Hannover erreicht und meinen Bruder kontaktiert. Ich war froh, nicht nur meinen Bruder, sondern auch Henry da zu haben – wenigstens zwei Menschen, die einen Sinn für meine Lage hatten. Das war ungemein wichtig, denn mein Selbstbewusstsein war am Boden, ich war empfindlich und reizbar – und das in einer Zeit, in der ich mein Leben neu organisieren musste. Fürs erste konnte ich bei meinem Bruder wohnen. Sie hatten in der WG ihr kleines Gemeinschaftszimmer für mich freigemacht und eine Liege hineingestellt. Es war zwar nur ein schmaler Schlauch im Dachgeschoß, aber ich war froh, erst einmal ein Dach über dem Kopf zu haben.
    In der nächsten Zeit hatte ich eine Menge Dinge zu erledigen. Als erstes musste ich den „Eingliederungsprozess in die Bundesrepublik Deutschland“ durchlaufen. Henry bot an, uns ins Notaufnahmelager nach Gießen zu fahren. Am nächsten Morgen fuhren wir schon los.
    Zum Glück konnten Michael und Henry auch im Notaufnahmelager übernachten, sonst hätten sie im Auto schlafen müssen. Ein obligatorischer Termin war ein Gespräch mit dem Verfassungsschutz. Eigentlich eine reine Formsache. Jeder Ausgereiste musste ein kleines Formular ausfüllen mit einer Begründung, warum er aus der DDR raus wollte. Ein Satz reichte, z.B. „Ich war unzufrieden mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen“. Ich schrieb aber, dass ich in meine Heimat, nach Hannover, zurückwollte. Ich musste ungewöhnlich lange warten, bis mich ein Mann vom Verfassungsschutz in einem Büro empfing. Ich betrat den Raum und erschrak. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wieder bei der Stasi im Vernehmerzimmer zu sein. Das ganze Ambiente, auch der Typ hinter dem Schreibtisch, seine ganze Körpersprache, der stechende Blick: Waren sie auch schon hier? Er wollte gar nicht wissen, warum ich in den Westen wollte. Er wusste Bescheid über uns. Seine Fragen richteten sich auf andere Dinge. Er fragten nach Details der Spionagetätigkeit meines Vaters. Glaubte er allen Ernstes, ich könnte ihm Stasi-Interna berichten? Ich war völlig erschüttert. Das Stasi-Gefühl verdichtete sich. Die hatten auch so vieles von mir erfahren wollen, was ich nicht wusste. Nicht eine Frage konnte ich dem unfreundlichen Typen vom Verfassungsschutz beantworten. Nach einer Weile wurde es mir zu bunt. Ich fragte ihn:
    „Sagen Sie mal. Sind Sie eigentlich vom Fach? Sie müssten doch ganz genau wissen, dass mir diese Dinge, die Sie hier von mir wissen wollen, völlig unbekannt sind. Mein Vater war der Geheimhaltung verpflichtet. Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe genug von dieser ganzen Geschichte!“
    Er beendete die Befragung dann auch sehr schnell. Völlig verstört verließ ich den Raum. Ahnte der überhaupt, was ich die letzten Monate und Jahre durchgemacht hatte? Es interessierte ihn wohl gar nicht. Zum Glück wurde ich von solchen Typen nie wieder behelligt, auch später nicht. Als alle Formalitäten erledigt waren, kehrten wir nach Hannover zurück.
    Es fiel mir schwer, wieder im normalen Leben anzukommen. Immer wieder merkte ich, wie menschenscheu ich geworden war. Mir fehlten einfach eine ganze Reihe Jahre, die wichtig sind für die

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