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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie

Titel: Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei.: Eine deutsche Tragödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Raufeisen
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persönliche Entwicklung. Mit 16, mitten in der Pubertät, war ich aus meinem Leben gerissen worden – und nun, mit 22, wieder hineingeworfen. Ich hatte lange nicht den gleichen Stand an Lebenserfahrung wie andere in meinem Alter. Ich war 22 und hatte noch nicht mal eine Freundin gehabt! Alles musste ich erst mühselig nachholen. Aber keiner konnte nachvollziehen, warum ich so tickte. Eigentlich hätte ich viel erzählen müssen, um diese Geschichte loszuwerden, aufzuarbeiten. Aber wem sollte ich so eine Geschichte erzählen?! Mein Bruder wollte viele Jahre lang nichts davon hören; er fragte nie nach, wenn ich mal was erzählte. Er konnte es nicht, denn er war mit viel Glück davongekommen. Schlechtes Gewissen. Unbegründet, aber nachvollziehbar. Für alle anderen in meinem Umkreis war das alles noch viel weiter weg. Wenn ich mal in eine Kneipe mitging, erzählten alle von ihren Erlebnisse im Studium, von Reisen, von Frauen. Nichts davon konnte ich bieten. Ich schob einen Riesenberg von traumatischen Erlebnissen vor mir her. Aber wenn ich mal anfing, davon zu erzählen, blickte ich nur in betroffene Gesichter, erlebte Sprachlosigkeit. In dem Moment dachte ich wieder: Oh nein, die darfst du gar nicht mit dieser Geschichte belasten! Ich habe dann lieber gar nichts mehr gesagt.
    Ein großes Problem bei meiner Verarbeitung des Erlebten war die merkwürdige Sichtweise weiter Teile der westdeutschen Öffentlichkeit auf die DDR Mitte der achtziger Jahre. Immer wieder merkte ich, dass für viele die DDR eher positiv besetzt war: Sie wäre eher als der Westen auf dem Weg in eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung. Ein bisschen grau noch, aber das würde schon noch werden. Wer etwas Schlechtes über die DDR sagte, wurde häufig in eine politisch sehr fragwürdige Ecke gestellt. Das Schwarz-Weiß-Denken, der Kalte Krieg, auch innerhalb Westdeutschlands, zeigte seine Wirkung – nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Man lebte zwar gern im Westen mit all seinen Freiheiten und materiellen Segnungen, aber den sozialen Großversuch am lebenden Menschen im Osten fand man gut. Das war der links-alternative Zeitgeist der 80er. So konnte man die propagandistisch verbreiteten „Vorzüge“ der DDR, ihren „Antifaschismus“ und ihren „Friedenskampf“ bejubeln, ohne mit den Nachteilen leben zu müssen. Ich selbst und meine Geschichte passten überhaupt nicht in dieses Weltbild. Keiner wollte etwas davon hören. Auch nicht von der permanenten Militarisierung schon der Kinder in der DDR. Das machte das Ankommen im „normalen“ Leben für mich noch schwieriger.
    Nach meiner Rückkehr in den Westen war klar, dass ich auf absehbare Zeit nicht in die DDR einreisen dürfte. Das hieß: Meine Eltern würde ich in den kommenden Jahren nicht sehen dürfen. Michael durfte es ohnehin nach wie vor nicht wagen, den Boden der DDR oder anderer Ostblockländer zu betreten. Ihm würde eine Verhaftung wegen seiner Kontakte zum Geheimdienst drohen. Wie würde unser Kontakt zu den Eltern aussehen? Solange ich in Haft war, habe ich keinerlei Post aus dem Westen, von meinem Bruder, erhalten, die kam nie an. Wenige Informationen fanden indirekt über unsere Verwandte den Weg nach Bautzen. Und jetzt? Genauso? Nein. Ich schrieb sofort Briefe an meine Eltern, die ich direkt nach Bautzen an das bekannte Postfach adressierte. Und sie erreichten sie! Wenigstens etwas. Wir konnten unsere Eltern nun ein wenig an unserer weiteren Entwicklung teilhaben lassen. Auch die Briefe von Michael wurden akzeptiert. Sogar Pakete durften wir direkt aus dem Westen senden. Westpakete direkt in den DDR-Knast! Auch wenn wir wenig Geld hatten: Für ein Paket, das auf 3 Kilogramm limitiert war, reichte es allemal. Und ich wusste ja am besten, was sie brauchten.
    Wie würde es für mich weitergehen? Ich hatte kein Abitur. Die Ausbildung als Kfz-Mechaniker hatte ich durch die Verhaftung nicht beenden können. Ohne jeden Abschluss stand ich da. Was nun? Ich war ja inzwischen 22 Jahre alt. Immerhin besaß ich die mittlere Reife mit Berechtigung, die Oberstufe zu besuchen. Aber sonst nichts. Vielleicht konnte ich meine Ausbildung als Kfz-Mechaniker im Westen beenden? Oder wegen der Vorkenntnisse vorzeitig abschließen. Danach wollte ich das Fach-Abitur machen, um vielleicht doch noch zu studieren. Die Lehrstellensituation war allerdings Mitte der achtziger Jahre katastrophal. Ich schrieb zig Bewerbungen. Nichts klappte. Ich fragte mich: Liegt es an der schlechten Lage allgemein oder

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