Der Tag Delphi
hinaus verspürte sie bei jedem Einatmen einen scharfen Schmerz in ihrem geprellten Brustkorb. Kurz gesagt – sie war fix und fertig. Mit Schrecken dachte sie an den langen Flug nach Hause, vor allem, da sie Grand Mesa noch beunruhigter verlassen würde, als sie hier eingetroffen war.
Sie schaute auf und stellte fest, daß Duncan Farlowe unmittelbar vor ihr stand. Er hatte den breitkrempigen Hut wieder aufgesetzt, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war mehr als nur grimmig.
»Wir müssen noch mal weg, kleine Lady.«
Kristen erhob sich langsam von ihrem Stuhl. »Was ist los?«
»Ich weiß noch nichts Genaues, aber es ist nichts Gutes.«
»Vielleicht sollten Sie mir das überlassen«, sagte Sheriff Farlowe, als sie den Fluß erreichen. »Wenn es David ist, werd' ich ihn anhand des Fotos erkennen, das Sie mir gezeigt haben.«
Zwei Kinder hatten die Leiche entdeckt, als sie am Flußufer gespielt hatten. Als Farlowe den Pritschenwagen so nah am Ufer parkte, wie es ihm möglich war, hatte die Autobahnpolizei sie bereits aus dem Wasser gezogen. Kristen sprang aus dem Wagen und lief zum Ufer hinab. Farlowe mußte sich sputen, um sie einzuholen und festzuhalten.
»Ich muß mich selbst überzeugen.«
Farlowe nickte zögernd, legte einen Arm um Kristens Schulter und führte sie weiter. Am Flußufer stand ein Krankenwagen. Die hintere Tür war geöffnet, und zwei Sanitäter schoben eine fahrbare Trage zu dem felsigen Ufer, auf dem ein schwarzer Leichensack lag. Vier Polizisten der Highway Patrol beobachteten das Geschehen ratlos.
»Tag, Duncan«, grüßte einer, als sie zu der Gruppe traten.
Farlowe legte zwei Finger an die Hutkrempe. Die Sanitäter hoben den Leichensack auf die Trage.
»Darf ich ihn mir mal ansehen?«
Einer der Autobahnpolizisten nickte. Die anderen sahen Kristen an.
»Könnte eine Verwandte sein«, erklärte Farlowe.
Kristen glitt an Farlowe vorbei, als einer der Sanitäter den Reißverschluß des Leichensacks aufzog. Sie stöhnte auf und sank dann auf den nassen Felsen auf die Knie. Farlowe hielt sie von hinten fest. Sie keuchte. Ihre Brust hämmerte, während sie um Atem rang.
»David«, rief sie. »O Gott, David!«
Farlowe nickte den Polizisten zu, und sie traten ein paar Schritte zurück. Einer der Sanitäter wollte den Leichensack wieder zuziehen, doch Kristen legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest.
»Nein!« schrie sie und kämpfte sich auf die Füße. Sie bückte sich zu der Leiche hinab und verzog das Gesicht. Diesmal betrachtete sie sie etwas länger. Ein heftiges Zittern erschütterte ihren gesamten Körper. Davids Gesicht war leer und milchig weiß. Die Augen waren aus den Höhlen gequollen. Der Mund hing auf groteske Art und Weise offen und schien seitlich verzerrt zu sein.
Aber am schlimmsten war die Oberfläche des Kopfes. Der Schädel war dunkel und blutig, und es waren nur noch ein paar Haarfetzen auszumachen. »Seht ihn euch an!« hörte sie sich schreien. »Seht ihn euch an!«
Das war das letzte, woran sie sich deutlich erinnerte, bis sie wieder im Rathaus von Grand Mesa war. Eine Decke, die Farlowe ihr um die Schultern gelegt hatte, trug nichts dazu bei, ihr heftiges Zittern zu lindern. Das konnte auch weder die heiße Suppe noch der Kaffee, den er ihr brachte. Sie hatte niemals so eine Kälte verspürt und befürchtete, ihre Zähne würden zerbrechen, weil sie so hart aufeinanderschlugen.
»Sie haben die Leiche gesehen«, sagte sie, als sie an der zweiten Tasse Kaffee nippte.
»Lassen Sie es eine Weile auf sich beruhen, kleine Lady.«
Aber das konnte sie nicht. »Sie haben die Leiche gesehen.«
Er nickte.
»W-wie … wie wurde er getötet?«
»Ich bin kein Experte.«
»Wie?«
Farlowe seufzte und zog den Stuhl näher zu dem ihren heran. »Sieht so aus, als wäre er erschossen worden.«
»Was ist mit … seinem Kopf passiert?«
Farlowe wandte sich etwas ab. »Könnte passiert sein, nachdem sie ihn in den Fluß geworfen haben. Könnten die Fische gewesen sein.«
»Nein.«
Er sah sie wieder an. »Kleine Lady, ich …«
»Machen Sie mir nichts vor. Halten Sie nichts zurück. Ich muß es wissen. Haben Sie verstanden? Ich muß es wissen!«
Farlowe seufzte laut. »Ich glaube, er wurde skalpiert.«
Kristen glaubte, ohnmächtig zu werden. »O mein Gott …«
Die Tasse fiel ihr aus der Hand und zerbrach auf dem Boden. Kaffee spritzte hinauf. Farlowe hielt Kristen fest und umarmte sie.
»Ruhig, ganz ruhig.«
Aber der Schmerz hatte sie ergriffen und
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