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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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ENZYKLOPÄDIE
     
    WELLE: Alles – ob Gegenstand, Idee oder Person – läßt sich auf eine Welle zurückführen. Eine Formwelle, eine Lautwelle, eine Bildwelle, eine Geruchswelle. Zwischen diesen Wellen kommt es, wenn sie sich nicht im unendlichen leeren Raum befinden, gezwungenermaßen zu Interferenzen.
    Das Interessante daran ist das Studium der Objektwellen, der Ideen. Was passiert, wenn man den Rock and Roll mit klassischer Musik vermischt? Was passiert, wenn man Philosophie und Informatik miteinander vermischt? Was passiert, wenn man die asiatische Kunst mit der westlichen Technik vermischt?
    Wenn man einen Tropfen Tinte ins Wasser schüttet, dann haben die beiden Stoffe ein sehr niedriges, gleichförmiges Informationsniveau. Der Tintentropfen ist schwarz, und das Wasser ist durchsichtig. Wenn die Tinte ins Wasser tropft, löst sie eine Trübung aus.
    Bei dieser Berührung ist der interessanteste Augenblick der, in dem chaotische Formen erscheinen. Der Augenblick vor der Auflösung. Die Wechselwirkung zwischen den beiden verschiedenen Elementen führt zu einem sehr abwechslungsreichen Gebilde. Es entstehen komplizierte Spiralen, verzerrte Formen und alle möglichen Fäden, die sich nach und nach zu grauem Wasser auflösen. In der Welt der Objekte ist dieses abwechslungsreiche Gebilde nur schwer zu fixieren, doch in der Welt des Belebten kann ein Zusammentreffen sich dem Gedächtnis einbrennen und haftenbleiben.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
     

190. CHLI-PU-NI QUÄLT SICH
     
    Chli-pu-ni ist beunruhigt. Fliegenbotinnen aus dem Osten berichten, daß vom Kreuzzug gegen die Finger nichts mehr übrig sei. Er sei vollständig von einer Fingerarmee vernichtet worden, die Stürme mit »stechendem Wasser« geschleudert hätten.
    So viele Legionen, so viele Soldatinnen, so viele vergebens vergeudete Hoffnungen!
    Die Königin von Bel-o-kan steht vor der Leiche ihrer Mutter und fragt sie um Rat. Doch der Panzer ist leer und hohl. Er antwortet ihr nicht. Nervös schleicht Chli-pu-ni durch ihre Gebärkammer. Arbeiterinnen wollen sich ihr nähern, um sie zu streicheln und zu beruhigen. Sie weist sie brüsk ab.
    Sie bleibt stehen und streckt ihre Fühler in die Höhe.
    Es muß doch einen Weg geben, sie zu vernichten.
    Sie eilt in die Chemische Bibliothek und sendet dabei ständig dieses Pheromon aus.
    Es muß doch auf jeden Fall einen Weg geben, sie zu vernichten.
     
     

191. WAS SIE VON UNS HÄLT
     
    Schon seit fünf Tagen schaute Nr. 103 ohne die mindeste Ruhepause fern. Sie hatte nur eine kleine Bitte gehabt: Sie brauche eine kleine Kapsel, um darin ihre zoologischen Pheromone über die Finger aufzubewahren.
    Laetitia schaute ihre Gefährten an: »Diese Ameise wird echt noch fernsehsüchtig!«
    »Sie scheint zu begreifen, was sie sieht«, meinte Méliès.
    »Vermutlich bloß ein Zehntel von dem, was über den Bildschirm flimmert. Mehr nicht. Sie sitzt wie ein Neugeborenes vor dem Apparat. Was sie nicht kapiert, deutet sie auf ihre Weise.«
    Der Meinung war Arthur Ramirez nicht.
    »Ich glaube, daß Sie sie unterschätzen. Ihre Kommentare zum syrakisch-syranischen Krieg sind sehr zutreffend.
    Außerdem weiß sie die Zeichentrickfilme von Tex Avery zu schätzen.«
    »Ich unterschätze sie ganz und gar nicht«, erwiderte Méliès,
    »und gerade deswegen mach ich mir Sorgen. Wenn sie sich bloß für die Comics interessieren würde! Gestern hat sie mich gefragt, warum wir uns so anstrengen, einander Leid zuzufügen.«
    Davon waren alle betroffen. Sie wurden alle von ein und derselben Frage gequält: Was soll sie bloß von uns halten?
    »Wir müssen aufpassen, daß sie keine zu negativen Bilder von unserer Welt mitkriegt. Es genügt ja, rechtzeitig umzuschalten«, fügte der Kommissar hinzu.
    »Nein«, wandte der Meister der Heinzelmännchen ein. »Das Experiment ist zu interessant. Zum erstenmal beurteilt uns ein lebendiges Wesen, das kein Mensch ist. Lassen wir unsere Ameise bei ihrem Urteil doch frei sagen, was wir absolut gesehen wert sind.«
    Sie setzten sich wieder alle drei vor den »Stein der Weisen«. Der hohe Gast unter der Glasglocke klebte noch immer mit dem Kopf vor dem Flüssigkristallbildschirm. Die Ameise zappelte mit den Antennen und speichelte mit Hochdruck Pheromone, während sie einer Wahlsendung folgte. Ganz offensichtlich lauschte sie sehr aufmerksam der Ansprache des Staatspräsidenten und machte sich dabei viele Notizen.
    Senden: Grüße, Nr. 103.
    Empfangen:

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