Der Tag der Ameisen
sich ein Ereignis vollzieht. Vorher ist es zu früh; danach ist es zu spät. Jeder weiß instinktiv, wann der richtige Augenblick ist.
188. DAS GEWICHT DER WORTE, DER SCHOCK DER BILDER
Sie setzten Nr. 103 vor einen kleinen Farbfernseher mit Flüssigkristallbildschirm. Da der Bildschirm für die Ameise noch immer zu groß war, plazierten sie vor ihr eine Linse, welche die Bilder auf ein Hundertstel verkleinerte. So hatte die Ameise ein perfektes Fernsehbild.
Für den Ton verknüpfte Arthur den Fernsehlautsprecher mit dem Mikrofon des »Steins der Weisen«. So konnte die belokanische Kundschafterin zugleich Bild und Duftton des Fingerfernsehens empfangen.
Natürlich konnte sie so weder Musik noch Geräusche wahr-nehmen; doch würde sie das Wesentliche der Kommentare und Dialoge verstehen.
Nr. 103 erzeugte einen Speicheltropfen, in dem sie ihre Beobachtungen über die Sitten der Finger aufzuzeichnen gedachte. Dann würde sie entscheiden, was diese Tiere wert waren.
Arthur Ramirez schaltete den Fernseher ein. Er drückte auf einen beliebigen Knopf seiner Fernbedienung.
Kanal 341: »Mit Krak-Krak erledigen Sie im Handumdrehen
…«
Jacques Méliès schreckte hoch und schaltete schnell um. Sein glänzender Einfall war nicht ganz ohne Risiken!
Empfangen: Was ist das? fragt Nr. 103.
Schrecken bei den Menschen. Hastig beruhigen sie sie.
Senden: Nur Reklame für ein Nahrungsmittel. Nichts Interessantes.
Empfangen: Nein, was ist das, dieses flache Licht?
Senden: Fernsehen, das am weitesten verbreitete Verständigungsmittel bei uns.
Empfangen: Das ist flaches, kaltes Feuer, oder?
Senden: Ihr kennt das Feuer?
Empfangen: Natürlich, aber das hier nicht. Erklärt es! Arthur Ramirez konnte sich kaum vorstellen, einer Ameise das Prinzip der Kathodenröhre zu erklären. Er versuchte es mit einem Vergleich:
Senden: Das ist kein Feuer. Es leuchtet hell und ist hell, aber nur deshalb, weil es ein Fenster ist, an dem alles vorbeizieht, was in unserer Kultur geschieht.
Empfangen: Und wie gelangen diese Bilder bis hierher?
Senden: Sie schweben durch die Luft.
Diese Fingertechnik versteht Nr. 103 nicht, aber sie will aufnehmen, was sie von der Welt der Finger zu sehen bekommt, als würde sie sich gleichzeitig an mehreren Stellen ihrer Stadt befinden.
Kanal 1432. Nachrichten. Maschinengewehrfeuer. Stimme aus dem Off: »Die Syraker haben ein Gas zum Töten von …«
Rasch zappte Arthur weiter.
Kanal 1445. Wahl der Miß Universum. Mädchen tänzeln hüftenwackelnd vorbei.
Empfangen: Was sind das für Insekten, die auf ihren beiden Hinterbeinen schwanken?
Senden: Das sind keine Insekten. Diese Tiere sind Menschen oder Finger, wie ihr sagt. Das sind unsere Weibchen.
Empfangen: Also so sieht ein Finger im Ganzen gesehen aus?
Die Ameise geht mit dem rechten Auge nah an das Verkleinerungsglas heran und beobachtet ausgiebig die Gestalten, die über den Bildschirm wippen.
Empfangen: Ihr habt also Augen und einen Mund. Aber die liegen ganz oben an eurem Organismus.
Senden: Hast du was anderes geglaubt?
Empfangen: Ich habe immer gedacht, ihr seid nur eine rosafarbene Masse. Ihr habt keine Antennen. Wie könnt ihr dann mit mir sprechen?
Senden: Wir verwenden ein Verständigungssystem mit Lauten, ohne daß wir dazu Antennen brauchen.
Empfangen: Und außerdem habt ihr zwei Beine zuwenig. Ihr habt nur vier! Wie könnt ihr damit laufen?
Senden: Uns genügen zum Laufen zwei Hinterbeine, aber wir haben eine Zeitlang gebraucht, um so weit zu kommen, ohne hinzufallen. Die beiden Vorderbeine benutzen wir zum Beispiel dazu, Dinge zu tragen. Das ist anders als bei euch, wo alle Beine zum Laufen da sind.
Empfangen: Sind die mit den langen Haaren auf dem Schädel krank?
Senden: Manche Weibchen lassen ihr Haar wachsen, um die Männchen zu verführen.
Empfangen: Warum haben eure Weibchen keine Flügel?
Senden: Kein Finger hat Flügel.
Empfangen: Nicht einmal die Fortpflanzungsfähigen?
Senden: Nicht einmal die.
Aufmerksam beobachtet Nr. 103 den Bildschirm. Die Fingerweibchen findet sie wirklich sehr häßlich.
Empfangen: Wechselt ihr die Farbe eurer Panzer wie die Chamäleons?
Senden: Wir haben keinen Panzer. Unsere Haut ist rosig und nackt, und wir schützen sie mit Kleidungsstücken in allen möglichen Farben und mit allen möglichen Mustern.
Empfangen: Kleidungsstücke? Ist das eine Art Tarnung, damit euch eure Räuber nicht finden?
Senden: Nicht ganz. Es ist eher etwas, um sich vor Kälte zu schützen und um
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