Der Tag der Ameisen
Hochzeitsflug.
Prinzessinnen und Männchen fliegen auf.
Nr. 103 lauscht dem Reporter und lernt vieles über ihre Art.
Sie wußte nicht, daß es auf der Erde so viele Ameisen gibt. Sie wußte nicht, daß bestimmte Arten in Australien, die man
»Feuerameisen« nennt, über so stark konzentrierte Ameisensäure verfügen, daß sie damit Bäume verätzen können.
Nr. 103 macht sich Notizen über Notizen. Sie kommt von diesem Fenster gar nicht mehr los, an dem so geschwind so viele interessante Informationen vorbeirauschen. Die folgenden Stunden waren vollständig dieser intensiven Fernsehbestrahlung gewidmet.
Am dritten Tag sieht Nr. 103 einer Show mit Komikern zu.
Mehrere Schauspieler schnappen sich ein Mikrofon und erzählen Geschichten, die den Saal zum Kreischen bringen.
Ein rundlicher, jovialer Mann schwadroniert drauf los:
»Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Frau und einem Politiker? Nein? Na dann. Wenn eine Frau nein sagt, dann heißt das vielleicht, wenn sie vielleicht sagt, dann heißt das ja, und wenn sie ja sagt, dann gilt sie als Schlampe. Wenn hingegen der Politiker ja sagt, dann heißt das vielleicht, wenn er vielleicht sagt, dann heißt das nein, und wenn er nein sagt, dann gilt er als Schweinehund!«
Der Saal gluckst.
Die Ameise reibt sich die Antennen.
Empfangen: Ich habe nichts verstanden …
Senden: Das ist zum Lachen, erklärt Arthur Ramirez.
Empfangen: Lachen? Was ist das?
Laetitia Wells bemühte sich, den Humor der Finger zu erläutern. Vergebens versuchte sie, die Geschichte des Irren zu erzählen, der seine Decke neu streicht. Und dann andere Witze.
Doch ohne die Bezugspunkte der menschlichen Kultur liefen sie alle ins Leere.
Senden: Gibt es in eurer Welt nichts, was euch zum Lachen bringt? fragte Jacques Méliès.
Empfangen: Erst muß ich doch wissen, was Lachen ist. Ich begreife wirklich nicht, um was es geht!
Sie versuchten, einen Ameisenwitz zu erfinden: »Eine Ameise streicht ihre Decke neu …«, aber das Ergebnis war nicht besonders glücklich. Man hätte wissen müssen, was für die Bewohnerin eines Ameisenhügels wichtig war und was nicht.
Für den Augenblick verzichtet Nr. 103 darauf, es zu begreifen; sie hält lediglich in ihrem zoologischen Pheromon fest: Die Finger müssen sich merkwürdige Geschichten erzählen, die physiologische Erscheinungen hervorrufen. Sie machen sich gern über alles lustig.
Es wurde weitergezappt.
»Denkfalle«. Madame Ramirez tauchte auf und hatte noch immer das Rätsel mit den sechs Dreiecken und den sechs Streichhölzern zu lösen. Sie tat weiterhin so, als würde sie die Antwort nicht kennen, aber Laetitia und Jacques wußten jetzt, daß Madame Ramirez längst alle Antworten kannte.
Sie zappten.
Ein Film über das Leben Albert Einsteins. Vereinfachte Erklärungen seiner astrophysikalischen Theorien. Nr. 103 findet daran unverhofft Interesse.
Empfangen: Anfangs konnte ich die Finger nicht voneinander unterscheiden. Doch nachdem ich jetzt so viele Fingergestalten gesehen habe, erkenne ich die Unterschiede. Der zum Beispiel ist ein Männchen, stimmt’s? Das sehe ich daran, daß er kurze Haare hat.
Eine Reportage über Fettleibigkeit. Magersucht und Fettsucht werden erklärt. Die Ameise ist entrüstet.
Empfangen: Was sind denn das für Individuen, die kreuz und quer essen! Essen ist doch die einfachste und natürlichste Sache der Welt. Sogar eine Larve weiß schon, wie sie sich zu ernähren hat. Wenn eine Zisternenameise anschwillt, weil sie sich voll Nahrung stopft, dann tut sie dies für das Gemeinwohl und ist stolz auf ihren dicken Körper – nicht wie diese Fingerweibchen, die jammern, weil sie es nicht schaffen, ihre Nahrung zu beschränken.
Nr. 103 erwies sich als unermüdliche Fernsehzuschauerin.
Die Ramirez’ hatten ihren Spielzeugladen geschlossen.
Laetitia und Jacques schliefen im Gästezimmer. Alle wechselten sich ab, um die Ameise zufriedenzustellen. Nr. 103 giert nach Informationen aller Art. Alles interessiert sie: die Fußballregeln, Tennis, Spiele, die Kriege zwischen den Fingern, die Politik der Staaten, die Hochzeitsfeiern der Finger.
Von den Zeichentrickfilmen ist sie wegen der einfachen und klaren Darstellung hingerissen. Beim Krieg der Sterne bricht sie in Begeisterung aus. Sie versteht zwar nicht das ganze Drehbuch, doch erinnern manche Szenen sie an die Schlacht um den Goldenen Bienenstock.
Sie zeichnet alles in ihrem zoologischen Pheromon auf. Diese Finger haben eine Phantasie!
189.
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