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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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Grüße, Finger.
    Senden: Ist alles in Ordnung?
    Empfangen: Ja.
    Damit Nr. 103 den Sendungen nach eigenem Belieben folgen konnte, bastelte Ramirez schließlich eine Minifernbedienung, mit der die Ameise sich von ihrer Experimentierglocke aus durchzappen konnte. Das Insekt gebrauchte und mißbrauchte das Gerät.
    Das Experiment dauerte noch ein paar Tage an.
    Die Neugier der Ameise schien unerschöpflich. Sie verlangte den Fingern dauernd weitere Erläuterungen ab. Was versteht man unter Kommunismus, dem Verbrennungsmotor, der Kontinentalverschiebung, Computern, Prostitution, der Renten-versicherung, Trusts, dem Haushaltsdefizit, der Eroberung des Weltraums, atomar betriebenen U-Booten, Inflation, Arbeitslosigkeit, Faschismus, Wetterkunde, Restaurants, Lotto, Boxen, Verhütung, Studienreform, Gerichtsbarkeit, Landflucht …? Nr. 103 hat bereits drei zoologische Pheromone über die Finger angelegt.
    Am zehnten Tag konnte Laetitia Wells nicht mehr. Vielleicht hatte sie die Menschen bisher kaum geschätzt, aber Familiensinn hatte sie stets gehabt. So war ihr Cousin Jonathan jetzt womöglich zum Tode verurteilt, während die rettende Ameise, die er ihnen geschickt hatte, wie angewurzelt vor ihrem Empfangsgerät hocken blieb.
    Senden: Bist du jetzt bereit, uns nach Bel-o-kan zu führen? fragte sie die Ameise.
    Ein Moment des Schweigens, während dem Laetitias Herz rasend schnell schlug. Die anderen neben ihr lauerten genauso ängstlich auf den Urteilsspruch des Insekts.
    Empfangen: Ihr wollt also mein Urteil hören? Na schön. Ich glaube, ich habe genug gesehen, um euch beurteilen zu können.
    Sie löst ihren Kopf vom Fernsehbildschirm und setzt sich auf die Hinterbeine.
    Empfangen: Ich behaupte natürlich nicht, euch genau zu kennen; eure Zivilisation ist so kompliziert … aber … über das Wesentliche bin ich mir schon im klaren.
    Sie hält sie hin, spielt mit der Spannung. Nr. 103 hat mit der Manipulation anderer Wesen wirklich große Erfahrung.
    Empfangen: Eure Zivilisation ist sehr kompliziert, aber um das Wesentliche zu begreifen, habe ich genug gesehen. Ihr seid verkommene Tiere und mißachtet alles, was euch umgibt, weil sich alles nur darum dreht, das anzusammeln, was ihr »Geld«
    nennt. Eure historischen Rückblenden jagen mir Entsetzen ein: Es sind nichts als Aneinanderreihungen von Morden im großen oder kleinen. Erst tötet ihr, dann redet ihr. Außerdem vernichtet ihr euch gegenseitig, und ihr vernichtet die Natur.
    Das fing ja gut an! Mit so viel Härte hatten die drei Menschen nicht gerechnet.
    Empfangen: Dennoch gibt es bei euch Dinge, die mich faszinieren. Ach, eure Zeichnungen! Ich bewundere vor allem diesen einen Finger … Leonardo da Vinci. Der Einfall, Zeichnungen anzufertigen, um seine Deutung der Welt darzulegen, und nutzlose Gegenstände allein aus Gründen der schönen Ästhetik herzustellen, ist einfach großartig! Als würde man Düfte nicht nur zur Verständigung erzeugen, sondern einfach, weil es so schön ist, sie einzuatmen! Diese freie und nutzlose Schönheit, die ihr Kunst nennt, ist euer Vorteil gegenüber unserer Zivilisation. Wir besitzen nichts Derartiges in unseren Städten. Eure Zivilisation ist reich an ihrer Kunst und ihren überflüssigen Leidenschaften.
    Senden: Du bist also einverstanden, uns nach Bel-o-kan zu führen?
    Noch will die Ameise darauf nicht antworten.
    Empfangen: Bevor ich zu euch gekommen bin, habe ich Schaben kennengelernt. Sie haben mir etwas beigebracht: Es werden die geliebt, die fähig sind, sich zu lieben, es wird denen geholfen, die sich selbst helfen wollen …
    Ihrer selbst und ihrer Argumente gewiß wackelt sie mit den Antennen.
    Empfangen: Das ist doch die entscheidende Frage: Würdet ihr an meiner Stelle eure eigene Art positiv beurteilen?
    Welch unangenehme Frage. Laetitia durfte sie natürlich nicht stellen. Arthur Ramirez auch nicht.
    Die Ameise fuhr mit ihrer Argumentation seelenruhig fort.
    Empfangen: Versteht ihr mich? Liebt ihr euch selbst genug, daß man euch lieben will?
    Senden: Na ja …
    Empfangen: Wenn ihr euch selbst nicht genug liebt, wie soll man erwarten, daß ihr eines Tages Wesen lieben könnt, die so anders sind wie wir!
    Senden: Das heißt …
    Empfangen: Sucht ihr nach den richtigen Pheromonen, um mich zu überzeugen? Laßt es sein. Die Erklärungen, die ich von euch erwartet habe, hat mir euer Fernsehen geliefert. Ich habe dort Dokumentarberichte und Reportagen gesehen, in denen Finger einander geholfen haben, wo Finger in

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