Der Tag der Ameisen
der indischen Kultur. Indien ist wie ein weicher Schwamm, der alles aufsaugt. Kaum waren sie angekommen, hatte Indien sie besiegt.
Die erste bedeutende Invasion war die der muslimischen Türken. Im Jahr 1206 nahmen sie Delhi ein. Es folgten fünf Sultansdynastien, die alle versuchten, sich des indischen Subkontinents vollständig zu bemächtigen. Doch beim Marsch nach Süden lösten die Truppen sich auf. Die Soldaten wurden des Tötens müde, verloren den Geschmack am Kämpfen und ließen sich von den indischen Bräuchen bezaubern. Die Sultane endeten in Dekadenz.
Die letzte Dynastie, die der Lodi, wurde von einem König mongolischer Abstammung, dem Timuriden Babur, gestürzt.
Er begründet 1527 das Mogulreich und läßt, kaum bis ins Herz Indiens vorgedrungen, die Waffen ruhen, um sich statt dessen an Malerei, Literatur und Musik zu begeistern.
Akbar, einem seiner Nachfahren, gelang es schließlich, Indien zu einen. Er versuchte es mit Sanftheit und erfand eine Religion, für die er aus allen Religionen seiner Zeit schöpfte und alles zusammenführte, was an ihnen Friedliches war.
Einige Jahrzehnte später jedoch versuchte Aurangseb, ein weiterer Nachfahr Baburs, den Islam auf der Halbinsel gewaltsam durchzusetzen. Indien erhob sich und zerfiel. Dieser Subkontinent läßt sich durch Gewalt nicht zähmen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es den Engländern, alle Faktoreien und die großen Städte zu erobern. Aber das gesamte Land beherrschten sie nie. Sie begnügten sich damit, Kantone zu schaffen, »kleine Viertel mit englischer Kultur«, die einer völlig indischen Umgebung eingepflanzt wurden.
So, wie Rußland von der Kälte geschützt wird und Japan oder England vom Meer, wird Indien von einer geistigen Mauer geschützt, an der alle klebenbleiben, die in das Land eintauchen.
Noch heute wird jeder Tourist, der sich auch nur einen Tag in diesen Schwamm wagt, von den Fragen nach dem Wozu und Wofür gepackt und ist versucht, jegliche Unternehmung einzustellen.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
195. EINE AMEISE IN DER GANZEN STADT
Jacques Méliès beugte sich über das Geländer.
»Sie ist abgestürzt.«
Alle sahen hinunter und versuchten etwas zu erkennen.
»Sie muß tot sein …«
»Vielleicht nicht. Ameisen können große Stürze verkraften.«
In Juliette Ramirez kam Bewegung.
»Finden Sie sie wieder. Sie ist die einzige, die meinen Mann und Ihre Freunde unter dem Ameisenhügel retten kann.«
Sie sausten die Treppe hinunter und kämmten den Parkplatz ab.
Laetitia Wells suchte unter den Autoreifen. Juliette Ramirez graste die kleinen Büsche ab, die unten an dem Wohnblock entlang zur Zierde gepflanzt waren. Jacques Méliès klingelte bei allen Nachbarn unter ihnen, um zu sehen, ob die Ameise nicht durch einen Windstoß auf einem Balkon gelandet war.
»Haben Sie vielleicht zufällig eine Ameise mit einem roten Fleck am Kopf gesehen?«
Natürlich hielten die Leute ihn für verrückt, doch dank seines Dienstausweises ließen sie ihn trotzdem überall stöbern.
Sie verbrachten den ganzen Tag mit Suchen.
»Was sollen wir bloß machen? Gott weiß, wo Nr. 103 ist.«
Juliette Ramirez wollte nicht aufgeben.
»Wenn diese Ameise wirklich weiß, wie man Krebs behandelt, müssen wir sie um jeden Preis wiederfinden.«
Sie stöberten noch lang. An Insekten herrschte kein Mangel.
Doch nicht einmal mit seiner Leuchtlupe entdeckten sie rote Waldameisen mit einem roten Fleck auf der Stirn.
»Wenn wir sie nur radioaktiv markiert hätten anstatt mit Nagellack!« tobte Méliès.
Sie stimmten sich ab.
»Es muß doch eine Möglichkeit geben, eine Ameise sogar in einer Stadt wie Fontainebleau zu finden.«
»Notieren wir alle Ideen, die uns durch den Kopf gehen.
Dann treffen wir gemeinsam eine Auswahl«, meinte Madame Ramirez.
Sie sprühten vor Ideen.
»Die ganze Stadt Meter für Meter mit Feuerwehr und Militär abkämmen.«
»Alle Ameisen, die wir antreffen, fragen, ob sie nicht eine mit einem roten Fleck auf der Stirn haben vorbeigehen sehen.«
Doch keine Lösung stellte sie zufrieden. Schließlich meinte Laetitia: »Und wenn wir eine Anzeige in die Zeitung setzen?«
Sie sahen einander an. Die Idee war vielleicht gar nicht so dumm, wie sie aussah. Sie grübelten noch ein wenig nach, doch keiner von ihnen hatte eine bessere.
196. ENZYKLOPÄDIE
SIEG: Warum ist jede Art von Sieg unerträglich? Warum wird man nur von der beruhigenden Wärme der Niederlage
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