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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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angezogen? Vielleicht, weil eine Niederlage nur das Vorspiel zu einem Umschwung sein kann, während der Sieg uns eher dazu anregt, das gleiche Verhalten beizubehalten. Die Niederlage ist innovativ, der Sieg konservativ. Diese Wahrheit spüren vage alle Menschen. Die Klügsten haben versucht, nicht den schönsten Sieg, sondern die schönste Niederlage zu erringen. Vor dem dargebotenen Rom machte Hannibal kehrt.
    Cäsar bestand darauf, an den Iden des März auszugehen.
    Ziehen wir unsere Lehren aus diesen Erfahrungen. Man kann seine Niederlage nie früh genug vorbereiten. Man kann den Sprungturm nie hoch genug bauen, um sich ins leere Schwimmbecken zu stürzen.
    Das Ziel eines klarsichtigen Lebens ist der Ruin, der den Zeitgenossen als Lehre dient. Denn man wird nie aus dem Sieg klug, sondern aus der Niederlage.
    Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
     

197. AUFRUF AN DIE BEVÖLKERUNG
     
    Phantombild unter der Rubrik »Entlaufen« des Sonntagsechos.
    Ein mit der Feder gezeichneter Ameisenkopf.
    Bildunterschrift: »Achtung! Passen Sie gut auf! Das ist kein Scherz. Die hier abgebildete Ameise kann möglicherweise das Leben von siebzehn Menschen in Todesgefahr retten. Die folgenden Angaben helfen Ihnen, jegliche Verwechslung mit anderen Ameisen auszuschließen:
    Nr. 103 683 ist eine rote Ameise. Sie ist also nicht ganz schwarz. Kopf und Brust sind orange-braun. Nur der Hinterleib ist dunkel.
    Größe: 3 mm. Der Panzer ist gestreift. Die Fühler sind kurz.
    Wenn man einen Finger nach ihr ausstreckt, schießt sie sofort einen Säurestrahl ab. Die Augen sind relativ klein, die Kieferscheren groß und gedrungen.
    Besonderes Kennzeichen: ein roter Fleck auf der Stirn.
    Wenn Sie sie finden und zu erkennen glauben, dann lesen Sie sie auf, selbst wenn Sie sich nicht ganz sicher sind, schützen Sie sie und rufen Sie 31415926 an. Fragen Sie nach Laetitia Wells. Sie können auch die Polizei anwählen und Kommissar Jacques Méliès verlangen.
    100 000 Francs Belohnung für jeden Anruf, der zum Wiederfinden von Nr. 103 683 führt.« Laetitia, Jacques und Juliette Ramirez bemühten sich, mit den Ameisen aus dem Terrarium zu sprechen, mit Ameisen, die sie zufällig auf der Straße auflasen. Obwohl diejenigen aus dem Terrarium schon von Bel-o-kan gehört hatten, waren sie doch nicht in der Lage, sie hinzuführen. Sie wußten nicht einmal, wo sie sich gerade befanden. Und beim Geheimnis des Krebses kapierten sie nicht im geringsten, worum es ging!
    Die gleiche Unwissenheit bei den Ameisen aus den Straßen, Gärten und Häusern.
    Sie mußten feststellen, daß die meisten Ameisen eher dumm waren. Sie interessierten sich für nichts. Sie kapierten nichts.
    Sie dachten nur ans Fressen.
    So begannen Jacques Méliès, Juliette Ramirez und Laetitia Wells zu ermessen, daß Nr. 103 ein Fall für sich war. Ihr intellektuelles Auftreten machte sie einzigartig.
    Laetitia Wells klaubte mit einer kleinen Pinzette die Kapseln auf, in denen Nr. 103 ihre zoologischen Pheromone über die Finger abgelegt hatte.
    Diese Nr. 103 hatte eindeutig alles über ihre Welt und ihre Zeit begreifen wollen. Selten hatte es soviel Neugier und Wissensdurst gegeben, nicht einmal bei den Menschen. Nr. 103 ist wirklich ein außergewöhnliches Wesen, sagte sich Laetitia Wells.
    Einen Augenblick lang hatte sie fast Lust zu beten. Wie anders ließ sich wohl eine Ameise in einer Menschenstadt finden, wenn nicht durch ein Wunder?

198. IN DER TOTENHALLE
    Von einer Eskorte aus Wachen mit langen Mandibeln begleitet, begibt Königin Chli-pu-ni sich nach unten. Sie wirft sich vor, nie mit Doktor Livingstone gesprochen zu haben. Sie weiß bereits, welche Fragen sie stellen will. Auch wie sie ihren Schwächen auf die Schliche kommt, hat sie sich schon zurechtgelegt. Und sie hat sich vorgenommen, sie zu ernähren.
    Man muß sie ernähren, um sie zu ködern, so wie man die wilden Läuse ködert, ehe man ihnen die Flügel stutzt und sie in Ställe sperrt.
    10. UG: Sie wird von neuem Eifer ergriffen. Die Königin beschleunigt ihren Schritt. Ja, sie will sie ernähren und mit ihnen reden. Sie will sich Notizen machen und zahlreiche neue zoologische Pheromone über die Finger anlegen.
    Ihre Wachen tänzeln um sie herum. Alle spüren, daß sich heute etwas ganz Bedeutendes ereignen wird. Die Königin der Föderation, die Begründerin der Evolutionären Bewegung, ist endlich bereit, mit den Fingern zu sprechen, sie zu studieren, um sie leichter töten zu

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