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Der Tag der Ameisen

Der Tag der Ameisen

Titel: Der Tag der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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brauchte nicht lange zu suchen, um dort sein Foto zu entdecken und darüber die fette Schlagzeile:
     
    WENN DIE POLIZEI SICH EINMISCHT
    Leitartikel von Laetitia Wells
     
    »Die Demokratie gewährt viele Rechte. Sie gestattet es uns unter anderem, Achtung zu fordern, selbst wenn wir nicht mehr unter den Lebenden weilen. Dennoch wird dieses Recht der verstorbenen Familie Salta verweigert. Nicht nur ist das Geheimnis dieses Dreifachmordes weiter ungeklärt, darüber hinaus wird der verstorbene Sébastien Salta, ohne daß er sich noch verteidigen könnte, beschuldigt, seine beiden Brüder ermordet zu haben, ehe er sich selbst gerichtet hätte.
    Man schert sich nicht darum, denn es ist eben bequemer, einen Toten zu beschuldigen, der keinen Anwalt mehr zu Hilfe nehmen kann. Das dreifache Verbrechen in der Rue de la Faisanderie hat uns wenigstens besser mit der Persönlichkeit von Kommissar Jacques Méliès vertraut gemacht. Dieser Mann nimmt es sich im Wissen um seine Berühmtheit heraus, bei seiner Untersuchung schamlos zu pfuschen. Indem er der zentralen Presseagentur gegenüber erklärt, die Brüder Salta seien alle an einer Vergiftung gestorben, erlaubt Kommissar Méliès sich nicht nur ein voreiliges Urteil über einen Fall, der viel komplizierter ist, als es zunächst den Anschein hat, sondern beleidigt darüber hinaus auch noch die Toten!
    Selbstmord? Nach einem kurzen Blick auf die sterbliche Hülle von Sébastien Salta kann ich versichern, daß dieser Mann dem gräßlichsten aller Schrecken zum Opfer gefallen ist.
    Sein Gesicht war nichts als Entsetzen! Es fällt scheinbar leicht zu glauben, daß der Urheber eines doppelten Brudermordes nach der Tat von heftigsten Gewissensbissen gepeinigt wurde und der Gesichtsausdruck daher rührt. Aber wer nur ein bißchen Ahnung von der menschlichen Psychologie besitzt – und für Kommissar Méliès scheint dies nicht zu gelten – weiß, daß ein Mann, der imstande ist, ein tödliches Gift in das Essen zu mischen, das er dann mit seiner Familie teilt, derlei seelische Regungen längst hinter sich gelassen hat. Sein Gesicht dürfte nur noch den endlich wiedergefundenen Seelenfrieden ausdrücken.
    Also die Schmerzen? Die von einem Gift ausgelösten sind nicht so stechend. Und noch steht nicht fest, welcher Art das Gift war, das alles erklären soll. Ich bin persönlich zum Leichenschauhaus gegangen, da mir die Polizei nicht gestattete, am Ort des Verbrechens Nachforschungen anzustellen. Ich habe den Gerichtsmediziner befragt, der mir verraten hat, daß an den Leichen der drei Brüder Salta keine Autopsie vorgenommen wurde. Die Akten wurden also geschlossen, ohne daß man die genaue Ursache ihres Ablebens kennt. Welcher Mangel an Seriosität bei Kommissar Méliès, diesem so gut beleumundeten Kriminalisten!
    Dieser allzu rasche Abschluß des Falles Salta gibt Anlaß zum Nachdenken und sogar zur Besorgnis. Mit gutem Recht kann man sich fragen, ob das Ausbildungsniveau im höheren Dienst unserer Polizei hoch genug ist, um der Gewitztheit der neuen Kriminalität begegnen zu können. L. W.«
    Méliès knüllte die Zeitung zusammen und fluchte.
     

13. NR. 103 683 STELLT SICH FRAGEN
     
    Finger!
    Die Finger!
    Ein unbekanntes Zittern überkommt Nr. 103 683. Normalerweise kennen die Ameisen keine Angst. Aber ist Nr. 103 683 noch »normal«? Als der Schädel von der Müllhalde das Duftwort Finger aussprach, weckte er in ihr eine schlafende, da seit Tausenden von Generationen nicht benutzte Zone ihres Gehirns. Die Zone der Angst.
    Wenn die Soldatin bisher an das Ende der Welt zurück-dachte, zensierte sie ihre Erinnerungen. In ihrem Gedächtnis radierte sie ihre Begegnung mit den Fingern aus. Die Finger und ihre phänomenale Macht, ihre unverständliche Beschaffenheit, ihr Drang zum blindwütigen Tod.
    Aber dieser Schädel, der dämliche Fetzen eines krepierten Gerippes, hat genügt, um die Zone der Angst wieder zu beleben. Früher war Nr. 103 683 eine unerschrockene Kriegerin, stets in der vordersten Front der Legionen, die sich der Armee der Zwergameisen stellten. Spontan hatte sie sich vorgenommen, in den unheilvollen Osten aufzubrechen. Sie hatte Tiere gejagt, deren Kopf so weit oben war, daß man ihn nicht mehr sah. Doch die Begegnung mit den Fingern hatte ihr jegliches Ungestüm genommen.
    Nr. 103 683 erinnert sich vage an diese apokalyptischen Ungetüme. Sie sieht ihre Freundin wieder vor sich, die alte Nr. 4000, von einer hyperschnellen schwarzen Wolke plattgewalzt wie ein

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