Der Tag der Ameisen
folgen einander fünf Schwadronen von Fliegen auf unseren Überresten. Jede begnügt sich mit ihrem Teil und läßt den der anderen unberührt.«
»Wir sind nicht viel wert«, seufzte der Inspektor ein wenig angeekelt. »Das kommt darauf an, für wen. Eine einzige Leiche reicht als Festschmaus für mehrere hundert Fliegen.«
»Na schön. Aber was hat das mit unserer Untersuchung zu tun?«
Jacques Méliès bewaffnete sich mit seiner Leuchtlupe und sah sich die Ohren von Caroline Nogard an.
»Im Inneren der Ohrmuschel finden sich Blut und Eier von grünen Fliegen. Das ist sehr interessant. Normalerweise hätten wir auch Larven von blauen Fliegen finden müssen. Also ist die erste Abteilung hier nicht vorbeigekommen!«
Der Inspektor begann die großartigen Informationen zu begreifen, die das Beobachten der Fliegen lieferte.
»Und warum sind sie nicht vorbeigekommen?«
»Weil etwas, jemand, vermutlich der Mörder, sich fünf Minuten nach Eintritt des Todes noch neben der Leiche aufgehalten haben muß. Die blauen Fliegen haben es nicht gewagt, sich zu nähern. Dann hat der Körper angefangen, sich zu zersetzen, und hat sie nicht mehr interessiert. Daraufhin sind die grünen angekommen. Und sie hat nichts gestört. Also ist der Mörder fünf Minuten lang geblieben, nicht länger, und dann abgehauen.«
Soviel Logik beeindruckte Emile Cahuzacq. Méliès selbst schien aber nicht zufrieden. Er fragte sich, was die blauen Fliegen daran gehindert haben mochte, sich zu nähern.
»Man könnte meinen, wir haben es mit dem unsichtbaren Mann zu tun …«
Er verstummte. Wie Méliès hatte er im Badezimmer ein Geräusch gehört.
Sie rannten dorthin. Rissen den Duschvorhang weg. Nichts.
»Ja, man könnte meinen, es ist der unsichtbare Mann, ich habe das Gefühl, daß er im Zimmer ist.«
Er schauderte.
Nachdenklich kaute Méliès auf seinem Kaugummi. »Jedenfalls ist er in der Lage, ein und aus zu gehen, ohne Fenster oder Türen zu öffnen. Er ist nicht nur unsichtbar, dein Mörder, sondern kann auch durch Wände gehen!« Er drehte sich zu dem eingewachsten Opfer um, dessen Gesicht schreckensstarr war. »Und ein grauenhafter Anblick. Was hat sie denn so gemacht, diese Caroline Nogard? Hast du was in deiner Akte?«
Cahuzacq blätterte in einem Dossier mit dem Namen der Toten.
»Kein Freund. Keine Verwicklungen. Sie hatte keine Feinde, die sie auf den Tod gehaßt hätten. Sie hat als Chemikerin gearbeitet.«
»Sie auch?« staunte Méliès. »Wo denn?«
»Im LAC.«
Die beiden Männer sahen einander verblüfft an. Im LAC: dem Labor für Allgemeine Chemie, dem Unternehmen, wo Sébastien Salta gearbeitet hatte!
Endlich hatte man den gemeinsamen Nenner, der nicht ein schlichtes Zufallsergebnis sein konnte. Endlich eine Fährte.
35. GOTT IST EIN BESONDERER GERUCH
Sie führen dorthin.
Die Soldatin erkennt die Gerüche, die es ihr erlauben, den Geheimsaal der Rebellinnen zu finden.
Ich brauche eine Erklärung.
Eine Gruppe Rebellinnen umringt Nr. 103 683. Sie könnten sie ohne weiteres töten, greifen sie aber nicht an.
Was ist das, »Götter«?
Wieder einmal führt die Hinkende das Wort.
Sie gibt zu, daß sie der Soldatin nicht alles gesagt haben, unterstreicht aber, allein die Tatsache, daß man ihr die Existenz der Pro-Finger-Bewegung verraten habe, sei ein enormer Vertrauensbeweis. Eine Geheimorganisation, die von allen Wachen des Volkes gejagt werde, vertraue sich für gewöhnlich nicht jedermann an.
Die Hinkende versucht, eine Antennenhaltung einzunehmen, die Freiheit bedeutet.
Sie erklärt, daß sich in Bel-o-kan derzeit etwas Wesentliches für ihre Stadt abspiele, für alle Städte, sogar für die ganze Art.
Der Erfolg oder Mißerfolg der Rebellinnenbewegung könne den Ameisen der Welt den Verlust oder Gewinn Tausender von Jahren Evolution einbringen. Unter diesen Umständen zähle ein einzelnes Leben nicht. Die Hingabe jedes einzelnen sei ebenso erforderlich wie absolute Geheimhaltung. In diesem Spiel, gibt die Hinkende zu, sei Nr. 103 683 eine entscheidende Figur. Sie bedaure, ihr nicht alles anvertraut zu haben. Diese Nachlässigkeit wolle sie wiedergutmachen.
Feierlich schließen sich die beiden Ameisen in der Mitte des Raums zusammen, um sich dem Zeremoniell einer AK hinzugeben, einer Absoluten Kommunikation. Dank der AK sieht, spürt und versteht eine Ameise sofort alles, was im Geist ihrer Gesprächspartnerin ist. Der Inhalt wird nicht einfach nur gesendet und empfangen: Er wird von den beiden
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