Der Tag der Ameisen
Existenz der Pro-Finger-Bewegung im Herzen der Stadt.
Die Zedibeinakanierinnen sind wirklich beeindruckt. Wenn man bedenkt, daß sich noch vor einem Jahr die fortschrittlichsten Techniken der Ameisen auf die Läusezucht, den Anbau von Pilzen und die Vergärung von Honigtau beschränkt haben!
Schließlich erörtern die Ameisen den eigentlichen Kreuzzug.
Nr. 103 683 erläutert, daß die Armee den Fluß überqueren, das Ende der Welt überwinden und von da an so breit wie möglich ausschwärmen werde, um keinem Finger Zeit zum Türmen zu lassen.
Die Königin Zedibei-nikiuni fragt sich, ob die dreitausend Soldatinnen der Hauptstadt reichen, um alle Finger der Welt auszurotten. Nr. 103 683 gibt zu, selber durchaus Zweifel zu hegen, und das trotz der Unterstützung durch die Fluglegion.
Die Königin Zedibei-nikiuni denkt nach, dann erklärt sie sich bereit, dem Kreuzzug eine Legion leichter Kavallerie zur Verfügung zu stellen. Das sind Soldatinnen auf langen Beinen, die extrem schnell laufen und sicher dazu in der Lage sind, flüchtige Finger einzuholen.
Dann spricht die Königin von etwas anderem. Von den Übergriffen einer neuen Stadt. Einer Ameisenstadt? Nein, einer Bienenstadt, dem Stock Askolein, der früher Goldstock hieß.
Die Stadt sei ganz in der Nähe errichtet worden, im vierten Baum rechts von der großen, bemoosten Eiche. Es sei normal, daß sie dort ihre Pollen ernten würden. Ganz und gar nicht normal sei es dagegen, daß sie nicht zögerten, gelegentlich Ameisenkonvois anzugreifen. Dieses Piratentum wäre bei Wespen keine Überraschung. Aber bei Bienen erscheine es recht beunruhigend.
Zedibei-nikiuni geht so weit zu glauben, daß diese Bienen Expansionsgelüste hegen. Sie attackierten die Konvois in immer größerer Nähe zu deren Mutterstadt. Die Ameisen hätten große Mühe, sie zurückzuschlagen. Meistens würden sie aus Angst vor einem Stoß mit dem Giftstachel lieber ihre Beute fahrenlassen.
Stimmt es, daß die Bienen sterben, sobald sie zugestochen haben? fragt ein Nashornkäfer.
Alle sind überrascht, daß ein Käfer sich so direkt an Ameisen wendet, aber da er ja schließlich auch an dem Kreuzzug teilnimmt, läßt eine Zedibeinakanierin sich dazu herab, ihm zu antworten: Nein, nicht immer. Sie sterben nur, wenn sie ihren Stachel zu tief hineinstoßen. Noch ein entzauberter Mythos.
Es ist eine Menge nützlicher Informationen ausgetauscht worden, aber schon bricht die Nacht herein. Die Belokanierinnen danken der Stadt Zedibei-nakan für die großzügig gewährte Verstärkung. Die beiden Völkerscharen tauschen zahlreichen Trophallaxien aus. Gemeinsam waschen sie sich die Antennen, ehe die Kälte alle zu einem Pflichtschlaf ruft.
70. ENZYKLOPÄDIE
ORDNUNG: Ordnung gebiert Unordnung, Unordnung gebiert Ordnung. Theoretisch besteht, wenn man ein Ei verquirlt, um ein Omelette zuzubereiten, eine unendlich geringe Wahrscheinlichkeit, daß das Omelette wieder die Form des Eis annimmt, aus dem es hervorgegangen ist. Doch diese Wahrscheinlichkeit besteht. Und je mehr Unordnung man in dieses Omelette bringt, um so mehr vervielfachen sich die Chancen, die Ordnung des ursprünglichen Eis wiederzugewinnen.
Die Ordnung ist also nur eine Kombination aus Unordnungen. Je weiter sich unser geordnetes Universum ausbreitet, um so mehr gerät es in Unordnung. Eine Unordnung, die, sich ihrerseits ausbreitend, neue Ordnungen gebiert, bei denen es keineswegs ausgeschlossen ist, daß eine mit der anfänglichen Ordnung identisch ist. Geradewegs vor uns, im Raum und in der Zeit, am Ende unseres chaotischen Universums, befindet sich womöglich der Urknall.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Bd. 2
71. DER RATTENFÄNGER
Ding, Dong. Laetitia Wells öffnete rasch.
»Guten Tag, Kommissar. Kommen Sie wieder zum Fernsehen?«
»Ich will bloß ein bißchen diskutieren, meine Ideen vorführen. Hören Sie mir einfach zu, das reicht mir, ich werde Sie nicht bitten, mir Ihre Gedanken zu verraten.«
Sie ließ ihn hereinkommen.
»Na gut, Kommissar, ich bin ganz Ohr.«
Sie bot ihm einen Sessel an, setzte sich ihm gegenüber und schlug ihre langen Beine übereinander.
Ehe er loslegte, bewunderte er erst ihr griechisch gerafftes Kleid und die Jadearbeiten in ihrem feinen Haar.
»Gestatten Sie, daß ich rekapituliere. Der Mörder ist jemand, der in einen geschlossenen Raum einzudringen und sich darin zu bewegen vermag, der Schrecken hervorruft, der keine Spuren hinterläßt
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