Der Tag der Ameisen
sogar wieder ein wenig zu Kräften gelangt.
Alles in allem lief es in dieser Hölle gar nicht so schlecht.
Auf den Vorschlag von Lucie Wells hin hatten sie beschlossen, ihre Namen aus der Menschenoberwelt aufzugeben. Da sie sich nun alle glichen, brauchten sie nur mehr Nummern. Das zeitigte eine bemerkenswerte Wirkung. Seinen Namen zu verlieren hieß, auf das Gewicht der Geschichte seiner Vorfahren zu verzichten. Sie waren wie neugeboren: Alle waren sie gemeinsam auf die Welt gekommen.
Seinen Vornamen zu verlieren hieß, daß man darauf verzichtete, sich von anderen zu unterscheiden.
Auf den Vorschlag von Daniel Rosenfeld (alias Nr. 12) hin beschlossen sie, sich eine neue Sprache zu suchen. Jason Bragel (alias Nr. 14) entdeckte einen Weg. »Der Mensch verständigt sich dadurch, daß er mit dem Mund Schallwellen aussendet. Doch die sind zu kompliziert, zu durcheinander.
Warum senden wir nicht alle eine einzige Schallwelle aus, durch die wir alle in Schwingungen versetzt werden?«
Die Dinge nahmen eine seltsame Wendung im Stil einer religiösen Hindusekte, aber es blieb ihnen keine Wahl. Hatte das Schicksal sie nicht letzten Endes in eine andere Dimension versetzt, auf eine andere Daseinsebene? Da mußte man mitspielen, und die Erfahrungen, denen sie sich auslieferten, begeisterten sie.
Sie setzten sich im Schneidersitz – die Gelenkigeren im Lotussitz – mit geradem Rücken in einen Kreis und hielten sich an den Armen. Sie beugten sich nach vorn, damit ihre Köpfe sich in der Mitte der Rosette berührten. Dann gab jeder seinen Ton von sich. Seine eigene Schallschwingung. Schließlich brachten alle ihr Timbre zum Einklang, so daß sie sich auf einem Ton vereinigten. Durch häufiges Üben sangen alle, so tief sie konnten; ihre Stimmen stiegen aus den Tiefen ihres Unterleibs auf.
Sie hatten die Silbe »OM« gewählt. Die Ursprünglichkeit ihres Klanges, der dem Gesang der Erde und des unendlichen Raums entstammt, durchdringt alles, so daß OM der Laut des Schweigens der Berge wie auch der Lärm des Tohuwabohus in einem Restaurant ist.
Ihre Augen fielen zu. Ihre Atmung verlangsamte sich, wurde tiefer, synchron. Sie wurden leichter, vergaßen alles, zerschmolzen in dem Klang. Waren der Klang. OM, der Klang, mit dem alles beginnt und alles endet.
Die Zeremonie dauerte lang. Danach löste sich der Kreis ruhig auf; manche verzogen sich in ihre Ecke, anderen gingen dieser oder jener Beschäftigung nach: aufräumen, die mageren Nahrungsreserven verwalten, mit den »Rebellinnen« reden.
Nur Nicolas nahm an diesen Ritualen nicht teil. Die anderen waren der Ansicht, er sei zu jung, um frei über seine Teilnahme entscheiden zu können. Ebenso waren sie sich alle einig gewesen, daß er am besten ernährt werden sollte. Schließlich ist bei den Ameisen der kostbarste Schatz die Brut.
Die Ameisen … Eines Tages versuchten sie sich mittels Telepathie mit ihnen zu verständigen. Ergebnislos. Man durfte sich eben nicht zuviel erträumen. Sogar untereinander wurden sie ernüchtert: Die Telepathie funktionierte nur bei jedem zweiten Versuch richtig, und dann nur unter der Bedingung, daß es bei keinem der beiden Beteiligten eine Form von Widerstand gab.
Die alte Augusta erinnerte sich.
So waren sie nach und nach zu Ameisen geworden.
Zumindest in ihren Köpfen.
74. ENZYKLOPÄDIE
MAULWURFSRATTE: Die Maulwurfsratte (Heterocephalus glaber) lebt in Ostafrika, zwischen Äthiopien und Nordkenia.
Dieses Tier ist blind und trägt auf seiner rosa Haut kein Fell.
Mit seinen Beißzähnen kann es mehrere Kilometer lange Tunnel graben.
Doch das Erstaunlichste kommt noch. Die Maulwurfsratte ist das einzige bekannte Säugetier, dessen Sozialverhalten dem der Insekten gleicht! Eine Kolonie von Maulwurfsratten besteht aus durchschnittlich fünfhundert Individuen, die sich wie bei den Ameisen in drei Hauptkasten untergliedern: Fortpflanzungsfähige, Arbeiterinnen, Soldatinnen. Ein einziges Weibchen, gewissermaßen die Königin, kann pro Wurf bis zu dreißig Junge zur Welt bringen, und zwar von allen Kasten.
Um die einzige »Gebärerin« zu bleiben, sondert sie mit ihrem Urin eine Geruchssubstanz ab, welche bei den übrigen Weibchen des Nests die Fortpflanzungshormone blockiert. Das Zusammenleben der Art in Kolonien läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß die Maulwurfsratte in fast wüstenhaften Gegenden lebt. Sie frißt Knollen und Wurzeln, die manchmal sehr groß und oft weit verzweigt sind. Ein einzelner Nager kann
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