Der Tag der Rache. Private Berlin
vorbeizufahren und einen weiteren Blick zu riskieren, verlangt danach, ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Polizei dort treibt, doch ich weiß, ich kann nicht. Schlaue Polizisten achten auf solche Sachen.
Am Ende beschließe ich, nach Hause zu fahren oder besser noch die Frau anzurufen, die glaubt, ich liebe sie.
Die Maske ein weiteres Mal wiederherstellen und meinem sichtbaren Leben Normalität verleihen.
Ich werde morgen mit einem anderen Auto zurückkommen. Und wenn die Polizei verschwunden ist, werde ich die Leiche des jungen Genies auf normalem Wege beseitigen, und alles wird seinen gewohnten Gang nehmen.
Doch wenn sie morgen noch da sind, bleibt mir keine andere Wahl, als das Schlachthaus und all die kleinen schmutzigen Geheimnisse für immer und ewig auszulöschen.
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»I ch sollte da drin sein«, beschwerte sich Mattie, als Tom die Türen des BMW entriegelte. Den weißen Kastenwagen, der in der nächsten Kurve verschwand, nahm sie kaum wahr.
Tom schüttelte den Kopf und stieg ein.
Mattie neben ihm wurde wütend. »D och!«
»N ein. Dietrich hat recht. Die Leute da drin müssen unvoreingenommen sein.«
»D u sagst, ich wäre nicht unvoreingenommen?«
»G enau das sage ich.« Tom startete den Wagen. »D u kannst nicht unvoreingenommen sein. Wärst du es, würde ich dich nicht mehr für einen Menschen halten.«
Darauf wusste Mattie nichts zu erwidern. Tom schaltete die Scheibenwischer ein, um die nassen Blätter von der Windschutzscheibe zu entfernen, während Mattie die Hände hochwarf. »I ch muss doch was tun. Ich kann nicht einfach…«
»W ir fahren in Chris’ Wohnung.«
Berlin ist mit einer Fläche von 892 Quadratkilometern eine riesige Stadt. Und Chris Schneider wohnte weit von Ahrensfelde entfernt, westlich vom Tiergarten und vom Zoo. Sie brauchten durch den Spätnachmittagsverkehr eine Dreiviertelstunde. Mattie schwieg wieder, betrachtete die vorbeiziehenden Häuser, die entlang des Weges vom alten Ostteil in den Westen standen.
Mattie lebte schon ihr ganzes Leben in Berlin, war durch und durch Berlinerin. Sie liebte diese Stadt, ihre Architektur, ihre Menschen, ihre Kunst, ihre gelassene Atmosphäre und ihren unternehmerischen Geist.
Doch jetzt, im Lichte des Geheimnisses um Chris’ Verschwinden, kam ihr Berlin plötzlich fremd vor– eine Stadt, in der Wesen wohnten, die jemandem einen GPS -Chip aus dem Rücken schnitten und an eine Ratte verfütterten.
Sie kamen an den Ruinen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit der großen Flachdacheingangshalle und dem Turm vorbei, der irgendwie den Bombenangriff von 1943 überstanden hatte. Die verkohlte Ruine stand auf einem Platz neben einem ultramodernen Kirchturm aus Beton und Glas.
Diese Ruinen gehörten zu Chris’ Lieblingsplätzen in der Stadt. Er saß gerne hier und betrachtete den Turm, der aussah, als wäre er durch die Bombe in zwei Teile gespalten worden. Eine Seite war in sich zusammengestürzt, die andere war wie ein hohler Zahn stehen geblieben.
»N ach links auf die Goethestraße?«, fragte Tom, der Mattie aus ihren Gedanken riss.
Erschrocken drehte sie sich um. »G enau«, antwortete sie.
Chris’ Wohnung lag in der Gutenbergstraße in Charlottenburg. Die Gegend hatte für einen Mann seines Alters etwas Spießiges, doch ihm hatte sie gefallen, weil der Weg zum Tiergarten nicht weit war, wo er gerne seine Runden drehte.
Mattie war seit mehr als sechs Wochen nicht mehr hier gewesen. Ihr letzter Besuch lastete schwer in ihrer Erinnerung, als sie jetzt mit ihrem Schlüssel die Haustür öffnete und einen Innenhof mit einem Stück Wiese und erhöhten Beeten durchquerte. Dasjenige unter Chris’ Fenster war frisch bepflanzt worden, und neben einer Hacke und einer Schaufel standen Beutel mit Tulpenzwiebeln. Auf der Wiese parkte ein BMW -Motorrad.
Mattie zog die Stirn zweifelnd in Falten. Sie wusste, dass Krauss, der Hausmeister, ein streitsüchtiger Kerl war. Motorräder in seinem Innenhof? Niemals! Nicht einmal Fahrräder durften dort stehen.
Sie schob den Gedanken beiseite und führte Tom eine Treppe in den ersten Stock hinauf. Sie zögerte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre ihr der Zutritt zu dieser Wohnung verboten, egal was Chris zugestoßen sein könnte.
»P asst der Schlüssel nicht in die Tür?«, fragte Tom. »O der hast du Angst, Hauptkommissar Dietrich schnappt über, wenn er herausfindet, dass wir hier waren?«
»S cheiß auf Hauptkommissar Dietrich.« Mattie rammte den Schlüssel ins Schloss,
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