Der Tag der Rache. Private Berlin
manchen Teilen Berlins nicht schnell genug beerdigt werden.
Weswegen er, als er sich dem Treptower Park näherte, das Gefühl hatte, mit einer Schaufel in radioaktivem Müll zu stochern. Er musste es tun, befürchtete aber, dabei draufzugehen.
Er parkte seinen Opel und sah auf die Uhr. Zwanzig vor fünf. Ihm blieben noch zwanzig Minuten. Er schluckte schwer, schnappte sich seinen Regenschirm und stieg aus, als hätte er eine schwere Last zu tragen.
Sein Kopf schnellte im Takt seiner langen, ungelenken Schritte nach vorn. Sein Weg führte zwischen triefnassen Herbstbäumen hindurch bis zu einer großen, rechteckigen Lichtung und vorbei an einer Statue, die eine weinende Mutter, die weinende Mutter Russland, darstellte. Von dort ging er eine lange Promenade weiter, die mit Trauerweiden gesäumt war, und auf zwei wuchtige, rote, sich gegenüberstehende Denkmäler zu. Der rote Granit stammte aus Hitlers Kanzleramt und war zu riesigen stilisierten Flaggen gehauen worden, auf denen ein Hammer und eine Sichel prangten.
Die Bronzestatuen unter den Flaggen zeigten zwei sich gegenüberkniende, vom Krieg gezeichnete russische Soldaten. Ein Stück entfernt stand eine dritte Statue, ein zehnmal so großer Krieger wie die anderen beiden. Der edle Sowjet trug ein deutsches Kind, zu seinen Füßen lag ein zerbrochenes Hakenkreuz.
Dietrich stieg die Stufen hinauf und ging zwischen den beiden knienden Statuen hindurch. Von dort aus blickte er über den Friedhof der fünftausend Stalin-Soldaten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schlacht um Berlin gestorben waren. Doch Dietrich nahm weder die sechzehn Krypten mit den Leichen wahr, noch dachte er über Stalin oder die Besonderheiten des sowjetischen Ehrenmals nach, sondern spähte durch den leichten Regen auf einen Weg, der parallel zum Friedhof durch ein kleines Wäldchen verlief.
Im grauen Licht und Regen erschien ein Mann in schwarzem Regenmantel und Jogginghose aus dem Wäldchen und marschierte schroffen Schrittes und mit rudernden Armen, den Kopf nach oben gereckt wie ein alarmierter Hund, den Weg entlang.
Dietrich blickte auf seine Armbanduhr: Punkt fünf.
Beinah ungläubig schüttelte er den Kopf. »N ach dem kann man tatsächlich die Uhr stellen.«
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Dietrich sah dem Mann hinterher, der sich von ihm entfernte, und schätzte seine Geschwindigkeit ein. Schließlich folgte er ihm schräg über den Platz, mäanderte durch die Sarkophage, wo er den Läufer kurzzeitig aus den Augen verlor. Am Rand der Skulptur des sowjetischen Soldaten mit dem deutschen Kind blieb Dietrich stehen. Der Regen hatte nachgelassen, so dass er die platschenden Schritte des sich nähernden Mannes hörte, noch bevor er ihn sah.
»O berst?«, sprach Dietrich ihn an. »H ättest du einen Moment Zeit für mich?«
Der Oberst war alt, mindestens über achtzig, doch seine selbstherrliche Haltung ließ erkennen, dass er es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Mit dem Blick seiner stahlblauen Augen schien er den Hauptkommissar von oben bis unten zu durchdringen, bevor er verächtlich seine Lippen zusammenzog. Ohne den Schritt zu verlangsamen, versuchte er an ihm vorbeizukommen.
Dietrich packte den alten Mann am Ellbogen. »I ch muss mit dir reden. Ich brauche deine Hilfe. Deinen Rat.«
»D u brauchst meine Hilfe?« Der Oberst lachte boshaft und entzog sich mit überraschender Kraft dem Griff. »J ahrelang wolltest du nichts mit deinem Vater zu tun haben, und jetzt tauchst du nach– wie lange ist es her?– zehn Jahren einfach hier auf und verlangst meine Hilfe?«
Einen Moment lang fühlte sich Dietrich tatsächlich so schlecht, wie er Kommissar Weigel gegenüber behauptet hatte. Sein Magen verkrampfte sich, und dieses Gefühl der Klaustrophobie hatte er nicht mehr gespürt, seit er seinen Vater das letzte Mal getroffen hatte.
»I ch arbeite an einem Fall«, erklärte Dietrich.
»J a«, erwiderte der Oberst herablassend. »D u bist Polizist.«
»H auptkommissar«, korrigierte Dietrich ihn. Wut keimte in ihm auf. »I ch muss nur ein paar Dinge ausschließen.«
»I n welcher Hinsicht, Hauptkommissar ?«
Es begann wieder heftig zu regnen. Dietrichs Vater hatte seine Kapuze nicht aufgesetzt, was ihn jedoch nicht störte.
Dietrich zögerte. »I ch würde von dir gerne hören, was du über gewisse Gerüchte aus der Vergangenheit weißt«, sagte er.
»W elche Gerüchte?«, fragte der Oberst.
»Ü ber das alte Schlachthaus in der Nähe von Ahrensfelde.«
Irgendwo in der harten Schale öffnete
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