Der Tag der roten Nase
bewegte ich mich wie im Automatikmodus zu Irjas Tür. Eigentlich befanden sich auf dem Treppenabsatz kaum mehr als zehn Personen, aber fürchterlich war es trotzdem, weil ich nicht fähig war, auch nur einem von ihnen in die Augen zu schauen, mich aber gezwungen fühlte, nach hier und da mit dem Kopf zu nicken und Guten Tag und Hallo zu sagen und obskure kleine Laute auszustoßen, die zwischen die Wörter zu tropfen schienen. Und obwohl es mir gelang, das Kopf-hoch-Trio Jalkanen in der Tür zu entdecken, so fiel es mir auch bei ihnen schwer, ohne Geschenk anzukommen, wenn eine ganze Etage voller Festgäste dabei zuschaute, und was für Festgäste, mein lieber Herr Gesangverein, was für eine dunkle, steife, ernste Gesellschaft!
Und dann kam es, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, eine Art Nachbewusstsein vielleicht, ein seltsames plötzliches Verständnis, dass ich die Geschehnisse der letzten zwanzig Sekunden grundsätzlich falsch eingeordnet hatte. Blanker Horror war es, weiß Gott zum wievielten Mal in so kurzer Zeit, und dabei halfen die vorangegangenen Horrorszenarien natürlichkein bisschen, sondern verschlimmerten die aktuelle Situation nur noch, für die es zwar wer weiß wie viele Gründe geben konnte, die aber hauptsächlich dadurch entstand, dass ich erst jetzt, da ich mich vor der Tür der Jokipaltios festkeilte, wahrnahm, dass all die Menschen um mich herum in unverbrüchlicher, vollkommener Mucksmäuschenstille dastanden und letzten Endes keineswegs mich anglotzten, sondern eher zur Decke und auf die Fußspitzen und überhaupt verlegen überall anderswohin schielten.
Da war es schließlich unausweichlich zu begreifen, dass ich mich ganz und gar nicht durch eine plaudernde Schar von Feiernden gedrängt hatte, sondern in eine äußerst ernste Angelegenheit hereingeplatzt war.
Zwar überwog feierliche Garderobe, das schon, Männer in Sakkos oder im Anzug, von den Frauen war eine im kleinen Schwarzen und eine andere in etwas wesentlich Üppigerem und Pompöserem, und dann waren da auch noch die Kinder, allen voran das der Jalkanens, es gurrte auf dem Arm seiner Mutter, gekleidet in ein winziges Rüschenkleid, und klimperte fast ebenso ernst mit den Wimpern wie seine Mutter. Irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe stach mir etwas in den unteren Augenrand, etwas wie ein splitterartig stecken bleibender heller Punkt, ein dünner Junge, der einen viel zu großen Blazer in einer Farbe trug, die eher an eine entzündliche Krankheit als an Beerenbrei denken ließ. Ich erkannte ihn als Bewohner des Hauses und erinnerte mich an seine Frage: Ist mit Ihnen alles okay?
Nein, es war nicht alles okay. Nichts war okay. Und all das schmerzliche Nicht-Okay kam natürlich von wer weiß was, aber ganz weit oben stand mit Sicherheit doch die Tatsache,dass die übrigen Herumsteher, die dunkelgestalthaften, ja also, dass bei denen kein Irrtum möglich war. Es handelte sich um Polizisten.
Mir wurde schwarz vor Augen.
Seltsamerweise nahm ich gleich danach den Industrieputzmittelgeruch wahr, der durchs Treppenhaus wallte und so stark war, dass es gewissermaßen davon widerhallte. Ich weiß nicht, was ausgerechnet das Putzmittel an sich hatte, ob es mit einer Hotelreminiszenz in Verbindung stand oder so etwas, aber in dem Moment, in dem ein Teil meines Gehirns die unerträgliche Menge von Alternativen durchkalkulierte, eine schrecklicher als die andere, hinsichtlich der jüngeren Vergangenheit wie der näheren Zukunft, fing entgegen aller Vernunft in einer anderen Schädelrichtung plötzlich ein vielschichtiges, irrsinniges Zukunftspanorama an zu flimmern, eines, in dem ich unter südlicher Sonne in einem Liegestuhl lag, durch einen Strohhalm ein süßes, schaumiges, regenbogenfarbiges Getränk schlürfte, während um mich herum lachende Freunde umherliefen, die Jokipaltios, die Jalkanens samt neuem Nachwuchs, und auch mein Sohn war dabei, unter einer Palme, mit rotem Gesicht und weißem Bauch, eine dicke Zigarre paffend und einer Schönheit und deren hinterlistig aussehendem Begleiter Geheimniskrämereien zuflüsternd.
Dann ertönte ein schnelles, scharfes Plop, als wäre eine Denkblase geplatzt. Und als es mir wieder gelang, den Blick überhaupt auf irgendetwas zu richten, sah ich auf den Backen des höflichen kleinen Jungen die Überreste einer Kaugummiblase, weitgehend in der Farbe seiner Jacke.
Bald drängten auch wieder die anderen Menschen in meine Sinneswahrnehmung, die ernsten Leute in der Festkleidungund in
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