Der Tag der roten Nase
schwer zu sagen, aber meine Gedanken drifteten kurz ab, starrte auf einen kleinen Sprung im Türrahmen, auf der Höhe des Schlosses, war das eine Spur von einem Einbruch, hoffentlich nichts frisches Schlimmes, aber alles in allem hatte er die gleiche Form wie das Stück europäische Westküste an meiner Decke. Dann kam ich wieder zu mir, weil Irja merkwürdig zu zappeln begann, sie verstand offensichtlich selbst nicht, wo sie hinwollte und wonach sie tastete, aber es schien sie wieder in die Wohnung zu ziehen, und im selben Moment, in dem ich rundum aufgeregte Dissonanzen hörte und spürte, dass einige andere mich in Richtung Treppe zerren wollten, in dem Moment also merkte ich, dass der Riemen meiner Handtasche an einem Knopf an Irjas Pullover hängen geblieben war; das Resultatbestand darin, dass es mir infolge all des Zerrens und Strampelns gelang, das Gleichgewicht zu verlieren und gegen Irja und mit ihr zur Tür hineinzustürzen.
Damit war es mit den Anklammerungen noch nicht vorbei. Während ich versuchte, mich mit hektisch tänzelnden Zehenspitzenschritten aufrecht zu halten, registrierte ich zweierlei: zum einen dass mein Mantelärmel an der Türklinke hängen geblieben war und nun die Tür in ordentlichem Tempo zugezogen wurde, und zum anderen dass durch die in ordentlichem Tempo zugehende Tür etwas zu hören war wie: »Was macht die Alte da eigentlich?« Und das war eine Lautäußerung der fürchterlichen Frau Hätilä.
Da hatte ich dann natürlich nichts dagegen, dass die Tür rasch zufiel. Für kurze Zeit sah ich nichts, in den Flur fiel kein Licht, die funzlige Tiffanylampe auf dem Tischchen, deren Schirm in verschiedenfarbige Stücke unterteilt war und an einer Art bronzenem Katzenschweif hing, war die einzige Lichtquelle, aber dann musste ich mich wieder auf Irja konzentrieren. Auch ihr war es gelungen, beim Stolpern durch die Tür auf den Beinen zu bleiben, sie stand zwischen den Mänteln, die in einer Ecke an der Stange hingen, und schaute abwesend auf das uralte Butterfass, aus dem Regenschirme, Stöcke, Eishockey- und Baseballschläger sowie ein irgendwie vollkommen fehl am Platz wirkender Spazierstock mit Silbergriff ragten. Ihr liefen keine Tränen mehr herunter, man sah, dass sie davon schon reichlich vergossen hatte, ihre Augen waren tief in die Höhlen eingesunken, wie zwei schwelende Himmelskörper.
»Was ist denn los?«, gelang es mir schließlich zu fragen, und dadurch kamen wir dann beide zu uns.
Mit irrsinniger Hast fing sie dann an, den schmalen Taschenriemen von ihrem Pulloverknopf zu befreien, und da ihr das einfach nicht gelingen wollte und sie alles noch schlimmer verknotete und rasend wurde und mit Gewalt daran zu reißen begann, fing ich an, ihr zuzureden, irgendwas zu sagen, bekam aber nichts Vernünftiges heraus, sondern machte mit dem Gestammel weiter, mit dem ich schon im Treppenhaus begonnen hatte, der Sohn, der Sohn, was für ein Sohn, großer Gott, was für ein Unfall, welcher Sohn, was. Schließlich bekam Irja den Riemen von dem großen türkisfarbenen Knopf los, der zumindest in dem spärlichen Licht genau den gleichen Farbton hatte wie ihr Pullover, ein etwas ausgeleiertes Kleidungsstück für daheim, und dann kamen endlich auch Wörter heraus, sie sagte, es sei der Sohn gewesen, bei dem Unfall, und ich verstand natürlich nichts weiter, als dass sie offenbar glaubte, mir das Ganze schon erzählt zu haben, und die unvollständige Kommunikation steckte auch mich insoweit an, als ich mich vorübergehend in ein innerliches Jammern und Lamentieren verirrte, weil ich sie am Abend zuvor per SMS mit unsinnigem Zeug über meinen Sohn zugetextet hatte, während andere Leute mit ihren eigenen Söhnen echte Probleme bewältigen mussten. Weiter konnte ich in meinen Schuldgefühlen jedoch nicht herumfuhrwerken, weil Irja bereits weiterredete, diesmal vernünftiger, eigentlich erzählte sie aus den Falten ihres Schluchzens heraus mit ganz deutlichen Worten, dass er in einen Autounfall verwickelt gewesen sei, ihr Sohn, ein ganzer Pkw voller junger Leute, und an der Stelle ihrer nun erneut bruchstückhaften Erklärung drängte mir etwas Dickes und Klares in die Kehle, nein, großer Gott, er wird doch wohl nicht tot sein, der Sohn, Kalle, nein, das durftenicht wahr sein, nicht so etwas, das war zu viel, einfach viel zu viel.
Aber Irja redete weiter, ich hörte zu, zu mehr war ich kaum fähig, auch wenn ich sie noch so gern in vielförmigem Mitleid und Trost ertränkt hätte, in der
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