Der Tag der roten Nase
krabbelte ich ins Auto.
In meiner Gefühlswallung fuhr ich natürlich erst mal in die falsche Richtung, mit den bekannten Folgen, aber was heißt bekannt, in dem Moment wusste ich ja noch nichts davon, aber man kennt das ja, dass es Probleme mit sich bringt, wenn man falsch abbiegt. So auch diesmal.
Dass ich einen Fehler gemacht hatte, begriff ich sofort, nachdem ich ihn gemacht hatte, konnte ihn aber genau an der Stelle nicht durch Zurückstoßen korrigieren, weil ich im Nu einen Haufen Autos hinter mir hatte. Ich fuhr also weiter, ohne mich an irgendetwas orientieren zu können, die Häuser wurden flacher, dann wuchsen sie wieder und wechselten das Aussehen, Beton wurde zu Backstein, Backstein zu Holz und Holz wieder zu Beton, und überall herrschte die niederdrückende, nasse, tagesdüstere Atmosphäre der Schnittstelle von Spätherbst und Frühwinter, was meinen ohnehin schon grauenhaften Zustand nicht gerade linderte. Erst jetzt verstand ich so richtig, was mich an all dem eigentlich so erschüttert hatte. Ich fühlte mich von übermächtiger Ungerechtigkeit in die Enge getrieben.
Ich fuhr so lange stur geradeaus, bis ich garantiert Kerava hinter mir gelassen hatte. Da ich keinerlei Hinweis ausmachen konnte, wie ich nun wieder in Richtung Heimat käme, beschloss ich umzukehren. Die Straße war breit und leer genug, um zwischen zwei Bushaltestellen einen Versuch zu wagen,der es dann allerdings in sich hatte: Der Motor soff zwei Mal ab, die Leute an den Haltestellen glotzten, eine kleine Oma deutete mit dem Finger auf mich und tuschelte ihrem strähnigen Schoßhund etwas zu. Irgendwie registrierte ich auch noch den Kiosk, der neben der einen Haltestelle stand, beziehungsweise den Verhau, der irgendwann einmal diese Funktion innegehabt hatte, dem Schild zufolge waren dort einst Blumen verkauft worden, aber jetzt war in den Fenstern nichts zu sehen als die Feuchtigkeit, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte, seit Jahr und Tag gab es dahinter kein Leben mehr, fast meinte man durch die beschlagenen Scheiben hindurch die krumme Gestalt der zwischen Rosen, Tulpen, Narzissen, Weihnachtssternen und Bändern und Papier verstorbenen und mumifizierten Inhaberin zu erkennen, deren letzter kummervoller Seufzer sich als ewiger Hauch an der verrammelten Scheibe der Verkaufsluke niedergeschlagen hatte.
Innerlich klammerte ich mich an allen möglichen Unsinn, anstatt mich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren, aber ich musste weiterfahren, zurück, mich überkam bereits das Heimweh, es zog mich mitten am Tag unter die Bettdecke. Und dann, auf einem Abschnitt des überall gleich aussehenden Basis-Boulevards von Kerava, der mir entweder neu war oder den ich schon kannte, wo auf beiden Seiten hohe Kiefern mit geraden Stämmen standen und dazwischen Wohnblocks, die wie in Form gegossen aussahen, mit teichartigen Parkplatzgeländen dazwischen, da also sah ich plötzlich irgendwo rechter Hand, eigentlich im äußersten Augenwinkel, Irjas niedergeschmetterte Gestalt.
Sie trat gerade aus einer Haustür. Prompt wurde in mir ein blödsinniger Automatikbefehl in Gang gesetzt und ich tratohne nachzudenken mit aller Kraft auf die Bremse. Zum Glück kamen gerade keine anderen Autos; mein eigenes blieb immerhin stehen und ging auf der Stelle aus, und als ich es wieder zum Laufen und dann zum Fahren gebracht hatte, fand ich knapp hundert Meter weiter, vor einem stillgelegten Siwa-Supermarkt, einen Parkplatz. Irgendein Verkehrsschild stand dort auch, aber dessen Bedeutung blieb mir verborgen.
Ächzend kroch ich über den Beifahrersitz, stieg aus und schloss den Wagen ab. Der Supermarkt war von einem dunklen, bereits erloschen wirkenden Ramschmarkt abgelöst worden, hinter dessen staubigen Schaufenstern sich undeutliche Gerümpelhaufen abzeichneten sowie eine hell hervorstechende Schaufensterpuppe, der zumindest die linke Hand und der rechte Fuß fehlten. Kurz überlegte ich, wie viel Zeit seit dem Kauf der einen Joghurtpulle eigentlich vergangen war, aber dann trugen mich meine Füße bereits an dem Gebäude vorbei zur Kreuzung, und dann stand ich auch schon vor dem Haus, aus dem Irja herausgekommen war, und bevor ich den Fußweg erreichte, musste ich mir einen Weg durch eine dichte Schar kleiner, in orange-schwarze Overalls gekleidete Japaner bahnen, die planierraupenartig vorwärtswatschelten und ihre Kameras schnurren ließen und alles Mögliche an Knacksen, Flachsen und Gedehntem ausstießen, weiß der Himmel, in was
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