Der Tag der roten Nase
für einem Weihnachtsland sie sich wähnten. Und dann, als ich sie endlich abgeschüttelt hatte, war Irja verschwunden.
Ich beeilte mich, den Fußweg zu erreichen. Er war durch und durch gewöhnlich und wand sich menschenleer zwischen ein paar gewöhnlichen Kiefernstämmen zu einem gewöhnlichen grauen Wohnblock. Im Gegensatz zum Asphalt hatte derSandboden den Schneeregen nicht aufgesaugt. In den Spuren, die jemand hinterlassen hatte, eilte ich im Laufschritt zu einem gepflasterten Areal, das man mit Ach und Krach als Hof bezeichnen konnte, von dort weiter zu der Tür, aus der Irja, wenn ich mich recht entsann, gekommen war, und dann, weil ich in der Türscheibe bloß ein dunkles Treppenhaus und mein perplexes Selbstporträt erblickte, weiter zur Hausecke.
Dort hörte ich eine Stimme, die etwas sagte wie: »Okay, hol mich dann hier ab, okay, wir sehen uns, Tschüs.«
Ich weiß nicht, warum, aber da schrak ich zusammen. Ursprünglich hatte ich angehalten, um mich zu erkundigen, ob es ihr gut ging, aber nun beschlich mich das Gefühl, es könnte mir als eine Art Auflauern ausgelegt werden, ich war nicht sicher, denn eigentlich war es ja ein Versehen, das Ganze, weil ich falsch abgebogen war und mich ein bisschen verfahren hatte, aber trotzdem, ich wollte ihr keinerlei zusätzliche Kopfschmerzen und Sorgen bereiten, sie hatte mehr als genug zu ertragen. Darum machte ich kehrt und trippelte so schnell meine Beine es erlaubten zum nächsten Hauseingang, es war derjenige, aus dem Irja kurz zuvor herausgekommen war, und griff nach der Klinke.
Natürlich ging sie nicht auf, die Tür. Dann merkte ich aber, dass drinnen Licht anging und jemand kam, eine blonde junge Frau, die mich zwar fragte: »Ist mit Ihnen alles okay?«, mich nach einer positiven Antwort aber ohne weitere Fragen ins Haus ließ. Ich huschte durch den bescheidenen Eingangsbereich zur bescheidenen Treppe und ging nach oben, trotz der Tatsache, dass mit jedem Schritt der niederschmetternde Geruch im Treppenhaus kompakter wurde, es roch nach beängstigend gründlich angebranntem Blumenkohl; da blieb einemnichts anderes übrig, als weiter nach oben zu steigen, immer weiter, so weit, bis es nicht mehr weiterging, weil eine Tür aus Stahlgeflecht kam, die sich nicht öffnen ließ. Ich stand auf dem Treppenabsatz, um zu verschnaufen, und überlegte mir, was nun, was tun, was nur, und es verging nicht viel Zeit, bis sich auch schon mit aller Macht die Frage ins Bewusstsein drängte, was um Himmels willen ich hier überhaupt verloren hatte, im fremden Treppenhaus eines fremden Wohnblocks, wieder einmal, aber natürlich rief mir niemand eine Antwort zu, vielmehr herrschte in dem miefigen Treppenhaus lastende Stille, vor der ich dann ohne weiter nachzudenken die Flucht ergriff.
Ich schaffte es zwei Stockwerke weiter hinunter, als ich jemanden weinen hörte. Sofort blieb ich stehen. Zuerst verstopfte mir das Hämmern meines eigenen Herzens die Ohren, dann hörte ich es wieder, das Weinen, links, hinter der Kiefernfurniertür oder durch sie hindurch oder aus dem Briefschlitz heraus, einem großen, sich nach schräg unten hin öffnenden Modell, dessen Klappe herabhing wie die Unterlippe eines Schwachsinnigen, auch das kam mir in den Sinn, ja, dort kam es heraus, das Weinen, und ich schlich näher heran, meine Schuhsohlen machten Geräusche, aber von so hoher Frequenz, dass man es wohl kaum hörte, ein bisschen so, als wäre mir eine Spitzmaus unter den Schuh geraten. Dann wagte ich es, mich über die offene Briefklappe zu beugen, durch die es furchtbar zog, es war ein bestürzender Gestank, der hartnäckig in den Borsten hing, etwas war da drinnen furchtbar schiefgegangen, was man natürlich auch an dem Weinen hörte, an dem kraftlosen, leer geschluchzten Heulen, bei dem auch mir die Tränen kommen wollten, und schon schluchzte ich auch, fastunmittelbar an der Tür, über der offenen Briefklappe, auf der Mäkilä stand, und ich fuhr erst hoch, als ein winziger Tropfen von meiner Nase auf die Klappe fiel.
Dann waren plötzlich Schritte zu hören, ganz in der Nähe. Instinktiv sprang ich die Treppe hinauf und konnte von der Biegung aus durchs Geländer hindurch einen Streifen blondes Haar erkennen. Die Mumin-Haarspange verriet die heraufkommende Person als jene Frau, die mich in das von Geschluchz und Geruch erfüllte Treppenhaus eingelassen hatte. Und da sie immer weiter nach oben zu steigen schien, musste ich wieder ganz nach oben zu der unfreundlichen Drahttür
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