Der Tag der roten Nase
fliehen.
Durch mein unterdrücktes Keuchen hindurch hörte ich, wie eine Etage weiter unten zuerst Schlüssel klimperten und dann ein Schloss zwei Mal klackte. Ich klammerte mich an den Draht, beruhigte eine Minute lang meinen Atem und dachte während dieser Minute eine Million Gedanken, die ich allerdings alle wieder unter die Oberfläche drücken konnte, ein bisschen wie mit schleimigen Algen überzogene Bojen oder wie die hießen, diese mit Luft gefüllten Dinger, die in Häfen und Buchten und so schaukelten. Was nicht unterging, sondern weiter im Kopf dröhnte, waren die schreckliche Trauer und das Mitleid mit Frau Mäkilä, obwohl ich ihr gar nicht wirklich begegnet war und wir nur beiderseits der Tür ein bisschen zusammen geheult hatten. Mein Herz pochte unter dem Mantel, mein Körper schwitzte, die Hände zitterten und der linke kleine Finger zuckte eigenartig. Auch sonst blinzelte es sonderbar und nervenzerfetzend, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass eine Neonröhre an der Decke in quälend willkürlichem Rhythmus flackerte.
Dann hielten meine Nerven es nicht mehr aus und ich musste mich in Bewegung setzen. Ich schlich zwei Etagen nach unten und blieb vor der Tür der Mäkiläs stehen. Wieder war mir zum Heulen zumute, weil ich überhaupt nicht wusste, was ich tun sollte, mich wieder an Irjas Fersen heften, oder hatte Reino sie schon abgeholt, und so weiter, werwiewas, und das alles half natürlich kein bisschen, ich stand bloß weiterhin vor der Tür, durch deren ausgeleierte Briefklappe der tragische, von Trauer und Sorge angesengte Geruch ins Treppenhaus drang. Die Nachbarstür war unmittelbar daneben, dort stand Näätälä. Dahinter sprach eine Frau so gedämpft ins Telefon, dass die Worte nicht zu verstehen waren, aber dann fauchte die Stimme plötzlich laut: »Keine Nüsse!« Das war unmöglich einzuordnen, aber aus irgendeinem Vorrat von Sinnlosigkeiten stieg der Gedanke auf, dass einem in diesem Treppenhaus ziemlich viele Umlaute begegneten, Mäkilä und Näätälä und Nüsse und verdrückte Tränen. Da mir aber im selben Moment dämmerte, wie taktlos es war, solchen Blödsinn vor der Tür eines Trauerhaushalts hin und her zu wälzen, bemühte ich mich die Erwägungen abzuschütteln, indem ich mich auf eine Tätigkeit konzentrierte, und da beging ich erneut einen Fehler, mein Gott, indem ich nämlich die Klingel drückte.
Er kam so schnell, der Impuls, ich begriff nicht einmal, an welcher von beiden Türen ich geklingelt hatte, ebenso schwer war zu sagen, welche Variante die bessere gewesen wäre. Letzten Endes war es auch egal, denn der Fehler war passiert und eine von beiden Türen würde jeden Moment aufgehen. Und sie ging auch auf, die richtige Tür gewissermaßen, die linke, diejenige, aus der die große Trauer strömte.
Nicht dass der Boden im eigentlichen Sinn geknarrt hätte, eher knatschte er irgendwie, so wie es alte Linoleumböden tun. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt und ein rotes, von Adern durchfurchtes, völlig zerrüttetes Frauengesicht tauchte auf, das vor Kummer alle Züge verloren hatte; es war so ausgezehrt, schwer zu glauben, dass darin noch etwas eingelassen war, aber in den Höhlungen des Schädels glommen zwei tief liegende, fiebrige Augen.
»Ja?«, fragte eine brüchige Stimme durch den Türspalt. Es klang, als würde etwas sehr Trockenes und sehr Altes kaum vernehmlich bröckeln und zu Boden rieseln.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich das leidende Wesen einfach an mich gedrückt und gesagt, es wird schon wieder, aber ich traute mich nicht und konnte auch keine Garantie auf solche Worte geben, ich wusste ja nicht, ob es wieder wurde, jemals, nicht einmal was meine eigenen durcheinandergeratenen Angelegenheiten betraf, wusste ich es, und auf keinen Fall vermochte ich ihr den armen Jungen zurückzubringen. So stand ich dann bloß stocksteif da und versuchte die arme Frau wenigstens so anzuschauen, dass sich das Mitleid übertrug. Mehr als ein bisschen Kopfneigen brachte ich dabei allerdings kaum zustande.
»Ja?«, fragte sie noch einmal.
»Guten Tag«, ächzte ich. »Von der Forschung. Markt. Wir machen, ich mache eine Umfrage. Aber wenn es ungünstig ist. Dann.«
In mir brach derartige Scham und Not aus, dass es mir die ganze innere Apparatur umdrehte, als wühlte ein grässliches Gerät darin herum. Zwar versuchte ich noch, etwas mehr Fluss ins verbale Humpeln zu bekommen, aber daraus wurdewieder einmal nichts, ich
Weitere Kostenlose Bücher