Der Tag der Traeume
einen aufmunternden Blick zu. »Du hast ein gutes Auge für solche Dinge.«
Ihre Schwester wurde rot. »Die Teile sind auch wirklich super. Dann kriegt Rick eine Kette aus Hämorriden zum Geburtstag.«
»Hämatite, du Schlaumeier.«
Hannah kicherte. »Wie auch immer.«
»Aber wir brauchen noch einen Kontrast zu diesem strengen Schwarz.« Kendall überprüfte die Röhrchen mit ihren Silberkugeln und wählte eines aus. »Hier, das dürfte gehen. Nach ungefähr fünfundzwanzig Hämatitperlen setzen wir ein Silberkügelchen dazwischen, das lockert den Gesamteindruck auf.«
»Dann lass uns loslegen.« Hannah rieb sich die Hände und zog sich einen Stuhl heran.
Kendall wurde warm ums Herz, als sie sah, welches Interesse ihre Schwester an der Arbeit zeigte, die ihr selbst so viel bedeutete. »Such du doch schon mal eine Reihe möglichst gleichgroßer Hämatite raus, während ich den Draht zurechtschneide.«
Eine halbe Stunde später waren sie beide eifrig bei der Arbeit. Hannah fischte die schönsten Perlen aus der Plastikschale, während sie Fragen über Fragen stellte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft schien sie bereit, Kendall ein wenig an sich heranzulassen, und diese musste sich mit äußerster Willenskraft davon abhalten, ihre Schwester nicht in die Arme zu nehmen – und alles zu verderben.
»Wie bist du überhaupt dazu gekommen, dich mit diesem Kram zu befassen?«, wollte Hannah schließlich wissen.
»Nun, du weißt ja, dass ich ständig von einem Verwandten zum nächsten abgeschoben worden bin, deshalb hatte ich kaum Spielzeug oder eigene Sachen. Aber als ich bei Tante Crystal lebte, brachte sie mir bei, wie man aus Nudeln Schmuckstücke anfertigt. Wir haben so ziemlich alles verwendet, was uns in die Finger fiel, und später haben wir auch zusammen gemalt. Tante Crystal arbeitete am liebsten mit Perlen und Steinen, bis die Arthritis ihre Hände befiel. Man könnte sagen, das Talent zum Herstellen von Schmuck liegt bei uns in der Familie.«
»Vermutlich hat sie nur Altweiberkram gemacht«, bemerkte Hannah in dem überheblichen Ton, den sie den ganzen Morgen lang nicht angeschlagen hatte.
Kendalls Augen wurden schmal. »Nein, Tante Crystal war wirklich begabt.« Sie musterte die Perlen, die Hannah ausgewählt hatte. »Genau wie du.«
»Klar, man muss ja auch ein Genie sein, um ein paar schwarze Perlen zu sortieren.« Hannah griff nach dem Häufchen, das sie beiseite gelegt hatte, warf es in den Behälter zurück und rührte mit der Hand darin herum. »So, das war’s dann.«
»Ach, Hannah, warum hast du das getan?« Betrübt betrachtete Kendall das Durcheinander. »Jetzt müssen wir wieder ganz von vorne anfangen.« Die ganze Arbeit, die sich ihre Schwester gemacht hatte, war für die Katz, und das vollkommen grundlos.
Oder gab es da vielleicht eine Erklärung, von der Kendall nichts ahnte? Falls ja, schien Hannah nicht geneigt, sich näher darüber auszulassen. Sie saß mit versteinerter Miene da und ließ Kendall keine andere Wahl, als in Gedanken ihr Gespräch noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Stimmung ihrer Schwester war in dem Moment umgeschlagen, wo Kendall Tante Crystal erwähnt hatte, aber sie verstand nicht, wieso der Name einer älteren Verwandten, die sie nie kennen gelernt hatte, Hannah in Wut versetzen sollte.
Oder doch?
»Hannah«, begann sie behutsam, »bist du eifersüchtig auf Tante Crystal? Auf meine Zeit mit ihr?«
»Wieso sollte ich eifersüchtig sein, weil sie dir lieber war als ich?«
»Das stimmt doch gar nicht.« Kendall streckte eine Hand aus, aber Hannah wich zurück.
»Ich will nicht darüber reden, okay?«
Das trotzig vorgeschobene Kinn verriet Kendall, dass sie es ernst meinte. Sie stieß vernehmlich den Atem aus, wohl wissend, dass sie augenblicklich das Thema wechseln musste, wenn sie das zarte Band, das sich zwischen ihnen gebildet hatte, nicht mit einem falschen Wort zerreißen wollte. »Macht es dir Spaß, selbst Schmuckstücke zu entwerfen?«, fragte sie.
Hannah zuckte die Achseln. »Ist ganz okay.«
Das war eine Untertreibung, wie Kendall wusste. »Weißt du, ich habe überall, wo ich gerade war, Nudelschmuck gebastelt, und niemand hatte was dagegen, weil ich auf diese Weise wenigstens beschäftigt war und niemanden gestört habe.« Kendall verzog das Gesicht, als angenehme und weniger angenehme Erinnerungen auf sie einstürmten. »Im Gegensatz zu dir kannte ich so was wie ein geregeltes Leben gar nicht.« Vielleicht konnte sie Hannah ja dazu
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