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Der Tag des Königs

Der Tag des Königs

Titel: Der Tag des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abdellah Taïa
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Legende. Das Böse, das von der anderen Seite kommt, von den Hügeln von Rabat, gegenüber. Von weiter her. Vom schwarzen Herzen Marokkos. Und die Angst. Die grenzenlose Angst. Fabriziert aus den Ängsten der Kindheit und der Unwissenheit. Fiktive Ängste. Keine, die man braucht, nein, ich meine die Ängste, die die Phantasie, anstatt ihr den Weg
zum Ozean hin freizugeben, in Truhen ohne Schlüssel verschließen. Die Angst vor den Gebietern, die gesichtslose Angst. Die Angst, die vom dunklen Himmel herrührt. Vom alltäglichen Tod. Nicht vom natürlichen Tod, sondern eher vom Tod als stetige, sichtbare, sofort an ihrem Geruch erkennbare Drohung, wie eine auf mich, uns, ein ganzes Volk gerichtete Waffe. Der Tod, der keine Beruhigung bringt. Der Tod von Anfang an.
    Von Aïn Houala kannte ich nur meine lebhafte Vorstellung und die Warnungen meiner Mutter:
    Â»Geh niemals nach Aïn Houala! Geh niemals nach Aïn Houala! Es ist zu abgelegen. Du wirst nie wieder zurückfinden. Du wirst nicht mehr zu deinem Leben zurückfinden. Geh niemals dorthin. Niemals. Hörst du? Hörst du?« 
    Ich hörte auf sie, auf meine Mutter. Ich berücksichtigte sie, diese Warnung.
    Bis zum heutigen Tag mit Khalid im Wald.
    Â 
    Wir waren noch immer nackt. Es war bald vier Uhr nachmittags. Der Muezzin rief in der Ferne die frommen Muslime zum Gebet.
    Ich öffnete als Erster die Augen.
    Ich war nicht Khalid. Ich konnte nicht Khalid sein. Ich konnte nicht in eine andere Haut schlüpfen. Es war unmöglich.
    Ich streckte Khalid die Hand entgegen. Ich berührte seine Nase, seine hübsche Nase, und ich fing an zu sprechen. Über Aïn Houala in ein paar Metern Entfernung von uns. Über die Felswand. Über den Abgrund. Über den Fluss irgendwo hinter dem Wald. Über die Müllkippe der Amerikaner, die eines Tages zu entdecken ich mir erträumte. Eine weitere Legende für die Armen.
    Khalid war noch in mir, in meiner Haut.
    Ich redete. Ich redete immer weiter.
    Â»Mach die Augen nicht auf, mach die Augen nicht auf. Nimm zuerst deinen Vornamen wieder zurück! Nimm ihn zurück!«
    Er überraschte mich mit seiner Antwort.
    Â»Ich lasse die Augen zu, schon gut, schon gut. Aber bevor ich meinen Vornamen wieder annehme, Khalid, möchte ich sagen, wie ich die Welt von dir ausgehend, von deinem Vornamen aus sehe.«
    Ich hörte ihm zu.
    Â»Ich sehe deine Mutter. Ich bin du. Ich bin mit ihr im Hamam. Im Hamam des Viertels. Er ist leer. Es ist noch früh. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Hat sie vergessen aufzugehen?
    Wir warten alle beide im heißesten Raum, dort, wo das Becken für das kochend heiße Wasser thront. Aber es gibt kein heißes Wasser. Es gibt kein heißes Wasser mehr.
    Sie sagt: ›Omar, geh mal nachsehen, warum kein heißes Wasser mehr kommt. Frag am Eingang nach.‹
    Ich sage: ›Ich will nicht von dir weggehen, Mama. Sonst werde ich kein zweites Mal in den Hamam hereingelassen. Ich will bei dir bleiben. Es ist das letzte Mal. Ich bin bei dir bis zum Schluss.‹
    Sie sagt: ›Es ist kalt in diesem Hamam. Wir brauchen heißes, sehr heißes Wasser. Hätten wir doch mehr Dampf. Das Wasserbecken ist leer.‹
    Ich sage: ›Das ist nicht schlimm. Ich werde mich an dich schmiegen. Ich werde dich wärmen. Du wirst mich wärmen. Wir werden füreinander da sein. Ich für dich. Du für mich.‹
    Sie schreit: ›Wir werden sicher krank. Die Kälte ist nicht gut, das weißt du. Sie ist die Wurzel allen Übels. Hast du das vergessen?‹
    Mein Kopf liegt in ihrem Schoß.
    Ich antworte sanft: ›Ich habe nichts vergessen. Aber ich will nicht von hier verjagt, nicht ausgeschlossen werden. Das ist unsere Welt. Und ausnahmsweise sind wir allein. Nur du und ich.‹
    Sie behält meinen Kopf auf den Schenkeln, doch sie kreischt erneut: ›Du bist wahnsinnig. Du bist nicht mehr in dem Alter, um mit mir in den Hamam zu kommen. Du bist groß, du hast seit Langem die Grenze überschritten. Du bist kein Kind mehr.‹
    Ich schreie nun meinerseits: ›Was bin ich dann? Wer? Ein Mann? Nein. Nein.‹
    Sie steht auf. Mein Kopf schlägt auf dem Boden auf. Ich habe Schmerzen. Ich bin verletzt. Blut rinnt. Es ist keine Sonne zu sehen.
    Meine Mutter steht vor mir. Ich habe furchtbare Schmerzen. Ich blicke sie an, ich klammere mich an ihr fest. An ihrem nackten Körper.
    Ich leide. Ich habe

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