Der Tag des Königs
berühren uns. Wir küssen uns auf den Mund. Und wir öffnen die Augen.«
»Sehr gut, Khalid. Los, fang an zu zählen.«
»Zehn .â.â. neun .â.â. acht .â.â.«
»Ich komme auf dich zu.«
»Komm.«
»Ich komme.«
»Fünf .â.â. vier .â.â.«
»Wo bist du?«
»Drei .â.â. zwei .â.â.«
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Khalids Mund war mein Mund. Er roch nach Zimt. Was hatte er zum Frühstück gegessen?
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Er war unermesslich, dieser Mund. Er nahm mich vom Wirbel bis zur Zehe. Verschlang mich.
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Ich lieà alles mit mir geschehen. Durch diese Ãffnung schlüpfte ich in die Haut Khalids.
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Ich wollte in diesem Mund, der meiner war, der ich war, die Herkunft dieses Zimts finden. Wissen, wie er sich mit den anderen Gerüchen von Khalids Körper vermischt hatte. Ausfindig machen, woher Khalids Geschmack kam. Die Geschmacksrichtung »Khalid«.
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Ich kannte ihn, diesen Geschmack. Sauberes Kind. Wohlriechend. Ordentlich gekämmt. Immer. Kein Kind Marokkos, sondern eines anderen Marokkos, dem ich eigentlich nie hätte begegnen, über den Weg laufen sollen. Ein Geschmack von anderswo. Ein in Paris gedrehter Werbespot, französisch, dermaÃen französisch, wie man ihn im Fernsehen sieht, wieder und wieder, der plötzlich einen Geruch, einen Geschmack hatte. Khalid war dieser unbekannte, bekannte, gezähmte, geliebte Geschmack.
Aber der Zimt in seinem Mund überraschte mich. Dieser Zimt war ich, er stand für mich und meine Welt. Khalid hatte ihn mir gestohlen. Und dieser Regelverstoà gefiel mir. Etwas von uns beiden war jetzt in ihm.
Der Zimt veränderte den gewohnten Geschmack Khalids, machte ihn noch vertrauter, zugänglicher, appetitlicher.â
Ich nahm seine Zunge in den Mund. Ich lutschte sie, saugte sie bis in die Tiefe meines Rachens auf. Ich spielte mit ihr. Ich mühte mich mit ihr ab: ein Kampf. Ich gewann. Sie war nun mein. Ich behielt sie in mir. Sie ruhte. Drei Sekunden, nicht länger. Der Kampf, spielerisch, ernsthaft, ging
weiter. Die Verwandlung auch. Der Austausch der Vornamen. Ein marokkanischer Science-Fiction-Film.
Der Zimt war nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Er füllte uns gegenwärtig alle beide von innen aus. Er bot sich für uns in mehreren Formen dar. Als Zimt-Apfel. Als Zimt-Aufguss. Als Kuskus mit Zimt. Als indischer Film mit Zimt. Als Weihrauch auf Zimtbasis. Als Droge mit einer Messerspitze Zimt.
Ich trank davon. Ich atmete davon ein. Ich biss davon ab. AÃ davon. Liebte davon.
Khalid gab auf, gab sich hin. Sein innerstes Wesen. Seine Haut. Seine Seele. Khalid gehörte mir.
Er versenkte sich in meinen Mund. Und ich war weiterhin in seinem unterwegs. Wege. Gassen. Dunkelheit. Vereinzelte Lichter.
Ich war zu einem Hexenmeister geworden: zu Bouhaydouras Sohn.
Khalid war der Baum und die Rinde gewesen. Er war nun einzig und allein die Rinde. Ich war der Baum.
Ich bin Khalid. Zimtgeschmack. Zimtfarbe.
Ich stellte eine Frage. »Hast du heute Morgen etwas mit Zimt gegessen?«
Während er noch in meiner Haut war, antwortete er für mich.
»Nein. Ich mag keinen Zimt.«
Aïn Houala. Ein furchtbarer Name, um mehrere Dinge gleichzeitig zu benennen. Eine Dunkelzone zwischen Rabat und Salé. Ein kleiner Abschnitt einer langen StraÃe, ein kleiner Teil eines dunklen und grenzenlosen Waldes, der bis Salé vordringt, um es zu verschlingen.
Aïn Houala ist zugleich ein Weg zwischen zwei Hügeln. Wenn man zu Fuà dort ankommt, befindet man sich unvermittelt oben auf dem Hügel. Eine unsichtbare Kraft treibt einen voran. Man kann nichts dagegen tun, unmöglich, sich zu widersetzen. Wie in einem Sog zieht es einen nach unten, zum Herzstück dieser höllischen StraÃe. Man fällt. Man fällt immer tiefer. Ein endloser Fall.â
Es gibt eine unauffindbare Wasserquelle. Und verirrte, herrenlose Schafe ohne Hund, um sie zu hüten.
In Aïn Houala ist man besessen. Oder kriminell.
In Aïn Houala gibt es frisches, trockenes Blut. Stimmen. Schreie. Mörder am Werk. Sie fangen einen, ob Kind, ob Jugendlichen, bringen einen hierher, auf diese leere StraÃe, und bluten einen aus: Sie füllen mit diesem Blut Ãlkanister der Marke Cristal. Und sie verkaufen es an die Hexenmeister und Ãrzte. Blut und Sonnenblumenöl, eine teuflische Mischung.
Von Aïn Houala kannte ich nur die
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