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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Nicht-Philosophie.«
    Dieser Anspruch vieler Philosophen, aus der Unmittelbarkeit des Lebens auszutreten, um über das Leben nachzudenken, ist eine seltsame Angelegenheit. Ist nicht der Verlust von Unmittelbarkeit das, was Grund für alle Depression oder Apathie ist? Das kann doch nicht gemeint sein, oder? Oder ist es umgekehrt: Macht eine melancholische Veranlagung einen zum Philosophen? Wenn ich merke, dass ich unbeteiligt bin, wird alles sinnlos. Camus sagt, das Bewusstsein für unsere Wirkung sei ein Beweis unserer Existenz. Also doch das Leben?
    Liebste Grüße von Ihrer Helen
    Helen durchblätterte ihre Briefe wie die Jahre, in denen sie mit Julius gelebt hatte, das heißt, mit der Gewissheit, dass er lebte, mit der Selbstverständlichkeit, dass er da war und für sie da war. Manchmal schien sie ihn als Adressaten völlig zu vergessen, sie nutzte ihn offensichtlich als eine Art ersten Leser, und später, als sie Bücher schrieb, die sie, wenn sie noch in Arbeit oder gerade erst fertig geworden waren, immer nur zögerlich zum Lesen herausgab, dachte sie daran, wie gern sie ihm alles geschickt hatte, wie sehr sie mit seinem Wohlwollen und seinem freudigen Nachklang gerechnet hatte, und wie sie sich genau darin oftmals selbst hatte vergessen können, wenn sie ihren Kugelschreiber oder Füller über das Papier schießen ließ und die Seiten eng mit ihrer großen Schrift gefüllt hatte. Später lernte sie theoretische Überlegungen zu diesem Phänomen kennen, dass ein Schreibender, eine Schreibende, ihre idealen Leserinnen und Leser immer mitdachte, mitfühlte und für sie auch leere Felder stehen ließ, die jene mit ihrer Imagination füllen konnten. In den Briefen an Julius bemühte Helen sich meistens, nicht nur schöne Sätze zu formulieren und einen gewissen thematischen Schwerpunkt erkennen zu lassen; sie ließ außerdem ihre Lektüren einfließen, Zitate, für die er vielleicht Verwendung finden könnte, oder Paraphrasen der Dinge, die sie gerade lernte, damit er sehen konnte, womit sie sich befasste. Er freute sich darüber und meldete ihr auch, wann er eines der Zitate zum Einsatz gebracht hatte, wie er es nannte. Er lache sich kaputt, sagte er auch manchmal, wenn er las, wie sie Menschen beobachtete oder von Liebeshändeln berichtete, die ihr zugetragen oder in die sie selbst verwickelt wurde. Er zeigte sich ein bisschen traurig, wenn sie es war, » und ich bin nicht dabei!«, oder wenn sie mit ihren paarundzwanzig Jahren zu seinem Entsetzen anfing, über die Vergänglichkeit zu sinnieren. »Schreiben Sie mir!«, forderte er sie immer wieder auf, und »schreib mir!«, hörte er nicht auf, sie zu bitten. Und Helen schrieb, denn: Julius war ihr idealer Leser.
    Sie sah jetzt, im Nachhinein, wie sie ihn manchmal um den Finger gewickelt hatte, wie in den Briefen aus der Pompadour-Ära und wie sie einen ernsteren Ton angeschlagen hatte, in den » Briefen zum Dritten Reich«, als wollte sie –
    Dezember 1985
    Lieber Julius, lieber Herr,
    Deine Stimme von heute Morgen
    klingt in mir nach
    Ich habe zwischen elf und eins heute besonders an dich gedacht, als ich meine Vorlesung schwänzte, um an einer Veranstaltung mit Filmen des Dritten Reichs teilzunehmen, die ich leider erst spät entdeckt habe. Man ist am Ende der Reihe angelangt; seit letzter Woche liegt das » Reich« in Trümmern, die Verdrängung der Trauerarbeit findet noch nicht statt, aber ihre Anfänge. Ein Film von 1947, In jenen Tagen : An die Stelle der Menschen, die Geschichte zu vermitteln hätten, tritt ein Film-Subjekt, das anhand von Einzelschicksalen » aufarbeitet«. Was uns heute fast als indirekte, vorsichtige Art erscheint, das Politische zu berühren, wirkte damals sicherlich schon überdeutlich. Du warst damals siebzehn, und ich freunde mich gerade mit dem jungen Typen an, der du vielleicht warst.
    Auch bei mir zu Hause liegt ein Tabu über dieser Zeit. Krieg gab es in den heroisch-heiteren Anekdoten meines Großvaters, in den Albträumen meines Vaters, den ein Granatsplitter im Kopf manchmal noch quält, und in den Nachkriegserlebnissen des Flüchtlingslagers, in dem meine Mutter drei Jahre lang gelebt hat. Alles kurz angedeutet, in unpersönlicher Form. Obwohl meine Mutter mich sogar einmal mitgenommen hat, in die Oberpfalz, in den Ort, und mir alles gezeigt hat, was es nicht mehr gab. Als ich Christa Wolfs Kindheitsmuster las, entdeckte ich das » Schicksal« meiner Mama. Dieses Lebensgefühl: wie Nelly auf ihrem Reisesack sitzt und

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