Der Tag ist hell, ich schreibe dir
begann erneut, eine Art Einteilung vorzunehmen, die mir vielleicht helfen würde, mir diese Geschichte zu Ende zu erzählen.
Es gab, so entschied ich nach einem weiteren Umstapeln, es war inzwischen wieder Winter, ein weiteres Mal war dein Todestag vorbeigegangen, neben der Gruppe der Briefe zur Liebe, von denen ich einige vorab herausgefischt hatte, drei weitere » Gruppen« von Briefen, die du in deinem Schreibtisch aufgehoben hattest, die dir also besonders wichtig gewesen waren: die Briefe des Anfangs, die Briefe zum Dritten Reich und die Briefe zum Mauerfall. Vier Stapel, vier Gruppen. Ich nahm den Stapel mit den allerersten Briefen, die ich dir überhaupt geschrieben hatte, die neben meinen frechen Annäherungszeilen lange Abhandlungen über Camus, Goethe, Kierkegaard enthielten, legte die schöne Postkarte mit der Diana der Schule von Fontainebleau obenauf, die ich aus Paris geschickt hatte, als ich dir meine Rückkehr nach Deutschland ankündigte. Sie zeigte, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, ein liebenswertes Zwinkern. Ich wickelte einen Wollfaden um den Stapel und packte ihn beiseite. Wie nett, dass du sie aufgehoben hast, dachte ich, wirklich nett.
Ich nahm mir die Gruppe der Briefe zur Liebe noch einmal vor, überflog sie erneut und teilte sie in zwei Epochen der Entstehung ein: Die » Pompadourzeit« und die Zeit im Winter, 1985/86, kurz vor meinem Umzug nach Berlin. Erstere waren halbphilosophisch und auch halbkomisch, die zweiteren tiefmelancholisch. Ich überlegte. Die Gruppe der Briefe zum Dritten Reich lag zeitlich irgendwo zwischen diesen beiden Epochen und überlappte sie zugleich; sie handelten überwiegend von der Geschichte, das heißt von der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Folgen, dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, sowie deren Verarbeitung in der Literatur, vor allem in den Romanen von Schriftstellerinnen der DDR . In diesen Briefen drängte ich dich oft und eindringlich, auch und mehr von dir zu erzählen.
Die Briefe zum Mauerfall schließlich legte ich erst einmal beiseite; sie waren der sich ereignenden Geschichte gewidmet, vor allem datiert auf den Herbst 1989; Kaskaden aus Berichterstattung, Utopien und moralischen Appellen an dich in deiner Funktion des Bankiers, der seinen Einfluss in der Politik nach Kräften geltend machen sollte.
Zu diesen Briefen, ganz unten, legte ich den letzten, den mit Warhols Engel, und spannte ein dickes Gummi darum.
Es hätte dir sicher gut gefallen, dass ich so systematisch vorging; ich musste grinsen. Dann wurde mir schlecht. Ich rannte ins Bad. Danach stand ich lange am Fenster, wie festgewachsen, und sah hinaus. Es war ein so verdammt schöner Wintertag; ich hätte zum Schlittschuhlaufen gehen können, statt –.
Immer wieder befielen Helen eigentümlich und unangenehm zusammengesetzte Gefühle und Gedanken, wenn sie diese papierenen Zeugen ihres eigenen Lebens in die Hand nahm und las, die für einen anderen bestimmt gewesen und nun wie ein Bumerang wieder bei ihr gelandet waren. Sie erinnerte sich, einige abgeschrieben zu haben, in denen sie eine Lektüre oder Eindrücke von Theaterbesuchen festgehalten hatte. Sie suchte sie in ihren rot-schwarzen Tagebüchern, legte Merkzettel mit einem Stichwort hinein, packte die Bücher auf den Stapel von Briefen, die als fünfte Gruppe übrig geblieben war, die sich nicht zuordnen ließen, die unterschiedlichen Themen gewidmet waren, wie die auf dickem blauen Papier, die sie in den Wochen, in denen sie die Wohnung gegenüber von Madame Pompadour renoviert hatte, an Julius geschrieben hatte. In einem dankte sie ihm für den Strauß Blumen, den er ihr zum Umzug geschickt hatte und der zwischen Farbeimern, Kassettenrekorder und Kaffeemaschine auf einer Kiste mitten im Zimmer gestanden hatte.
8. Juni 1985
Mein lieber Herr,
es ist halb acht am Abend, und während Sie jetzt hier in der Nähe an einem Festessen teilnehmen, träume ich aus dem Fenster hinaus, Sie würden mit mir irgendwo sitzen. Ich versuche, ein Denken über das Leben nachzuvollziehen, das mir hin und wieder so vorkommt, als lebte es fernab von dem, was sich mir als » Leben« zeigt. Professor Raabes Gedanken sind ja noch ganz unmittelbar. Aber was sich z. B. Hartmann und Gehlen über die Freiheit » ausgedacht« haben, befremdet mich. In den letzten Tagen habe ich oft an ein Zitat von Fichte gedacht, das ich bei Gehlen fand (sinngemäß): » Philosophie ist ganz eigentlich Nicht-Leben; und Leben ist ganz eigentlich
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