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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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niemals mehr dort sitzen, auf diesem schönen Stuhl mit der klassisch geschwungenen Holzlehne und dem grau bezogenen Polster und nach ihnen schauen, auch wenn du vielleicht manchmal beim Nachdenken nur in ihre Richtung oder durch sie hindurchgeschaut haben mochtest.
    Helen hielt sich an der Lehne des Stuhls fest, ihr Blick fiel auf den hellgrauen Telefonapparat, und ihr fiel ein, wie Julius sie einmal zu Hause bei ihren Eltern angerufen hatte, in dem Frühling, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten, er, an diesem Schreibtisch sitzend, und sie, auf dem Balkon in der Sonne hockend, an die Hauswand angelehnt. Sie hatte im Hintergrund sein Kind spielen hören, Jessica, die damals vielleicht vier Jahre alt gewesen sein mochte. Tränen liefen Helen über das Gesicht, die sie kaum wahrnahm, die sie vor den anderen Trauergästen im Haus unten zurückgehalten hatte, die ihr zuvor in der Kirche, im Dom, aus den Augen gelaufen waren, und in diesem Moment entdeckte sie auf der ordentlich aufgeräumten und sauber gewischten Platte ihren eigenen Briefumschlag, ihren letzten Brief, was sie geradezu erschrak, ihren eigenen Brief in dieser Umgebung zu sehen, ein etwas größerer Umschlag aus braunem, dickerem Papier, mit einem festen Rücken, in dem sie Julius zusammen mit einem langen Brief einige Fotos vom Mauerfall mitgeschickt hatte, Eindrücke der ersten Tage nach der Öffnung, im November, es war ja nur drei Wochen her, mit lachenden Vopos an der Grenze, irritiert in die Kamera blickenden jungen Soldaten am Brandenburger Tor, nach Hause eilenden Menschen mit Plastiktüten aus Supermärkten, einer alten Frau mit einer Banderole auf der Brust, auf der » Neue Freiheit« stand, aber auch eine private Aufnahme, die sie von sich selbst gemacht hatte, eine kopflose Skulptur ihres Körpers, in einem Spitzenhemd der Jahrhundertwende, das sie auf dem Flohmarkt gekauft hatte.
    Helens Blick wanderte von diesem Briefumschlag, der so ordentlich in der oberen Ecke des Schreibtischs lag, zu den Schubladen, in denen später Pia auch die anderen Briefe gefunden hatte, wie sie es ihr jedenfalls gesagt hatte, als sie sie ihr vier Jahre später, von diesem Tag an gerechnet, brachte, was Helen in diesem Augenblick ja noch nicht wusste, woran sie auch nicht im Traum gedacht hätte, dass ihr Brief einmal wieder bei ihr landen würde, sondern nur daran – dass Julius noch vor wenigen Tagen, einem der letzten Tage seines Lebens, diesen Brief an diesem Ort, an dem sie sich jetzt befand, in den Händen gehalten hatte. Und Helen erschrak noch einmal, weil der Engel, der pausbackige, frech gezeichnete Engel von Andy Warhol, den sie aus einem Kalender ausgeschnitten und auf diesen Brief geklebt hatte, so wie sie oft ihre Briefe an Julius dekoriert hatte, sie nun ansah, so rosa und munter, und ihr vorkam wie ein schrecklicher Vorbote des Todes, eine Ahnung, Ankündigung, Warnung. Sie starrte den Engel auf dem Umschlag an, er lächelte. Helen spürte etwas wie einen Hub in ihrem Magen, ihre Knie begannen zu zittern, und sie krallte sich an der Lehne von Julius’ Stuhl fest. Sie hatte das Gefühl zusammenzubrechen, was sie auf gar keinen Fall wollte, nicht hier, nicht in diesem Haus. Sie zuckte zusammen, sie hörte Schritte auf der Treppe näherkommen, und mit einem Mal stand Jessica vor ihr, Julius’ Tochter, die vielleicht elf Jahre alt war. Sie sah Helen aus etwas verlorenen und zugleich neugierigen dunklen Augen an, Helen wusste nicht, was sie sagen sollte, sie nestelte nach einem Taschentuch, als das zierliche Mädchen schon neben ihr stand und ihre Hand nahm. Sie sagten beide nichts; sie standen nur einen Augenblick so da, bis Helen wieder zu sich kam, sich hinabbeugte und das Mädchen in die Arme schloss.
    Ich weinte bitterlich, als mit den Briefen in der Hand die Erinnerung an diesen Tag der Beerdigung in mir hochschoss und eine Gedächtnislücke füllte, finster und ätzend. Ein grauenhaftes Ohnmachtsgefühl überrollte mich. Ich saß im Garten, alles blühte, bald würden die Kinder von der Schule nach Hause kommen, mit ihren vogelhellen Stimmen, und von ihren Vormittagen erzählen und nicht begreifen, weshalb sich ihre Mutter in vergangene Traurigkeiten begab.
    Ich brauchte danach mehrere Monate, um mir das Päckchen mit den Briefen wieder vorzunehmen. Es gelang mir mit einer fast unerträglichen, befremdlichen Distanz zu mir selbst, die ich hasste und auf die ich mit heftigen Kopfschmerzen reagierte. Doch irgendetwas zwang mich, und ich

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