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Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Der Tag ist hell, ich schreibe dir

Titel: Der Tag ist hell, ich schreibe dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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gewöhnlich nur so heraus; doch gestern hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, nicht ganz frei zu sein. Julius hatte sie anders angesehen als sonst. Er hatte einen etwas müden, verletzlichen Zug, etwas Trauriges, Sehnsüchtiges in den Augen; und seine Stimme hatte eine Nuance, die Helen noch nicht kannte. Er sprach langsamer als sonst. Je länger sie beieinander saßen, desto mehr fiel es ihr auf, und sie merkte, wie auch sie von dieser unerklärlichen Traurigkeit befallen wurde. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst sie mitgebracht oder ob er sie angesteckt hatte.
    Das Gespräch war ins Stocken geraten. Sie saßen im Restaurant Walterspiel des Hotels Vier Jahreszeiten , vor sich auf dem weiß gedeckten Tisch das feine Geschirr, die glänzenden Gläser, die silbernen Platzteller, um sie herum überwiegend ältere Paare, die Männer sehr gepflegt, in eleganten dunklen Anzügen und hellen Hemden, ihre Frauen in Chanel- oder Escada-Kostümen, die Gesichter auffallend unauffällig geschminkt, mit großen, goldenen Ohrringen. Helen nahm, weil das Gespräch mit Julius unterbrochen wurde, die Anwesenheit dieser Menschen deutlicher wahr und fühlte sich unwohl und fehl am Platz. Julius war durch Fotos in den Zeitungen und einige Pressekonferenzen inzwischen so bekannt, dass die Leute ihn unweigerlich anschauten.
    » Kümmer dich nicht drum«, sagte Julius, die Stille zwischen ihnen unterbrechend, » such dir lieber einen Nachtisch aus«, und schon war der Augenblick der Verunsicherung verflogen, sie nahmen ihren Gesprächsfaden wieder auf, die Umgebung war vergessen.
    Ich blättere in meinen angestaubten Tagebüchern und bewege mich durch die Jahre im Tempo einer Schnecke; in der Bewegungsrichtung wie ein Krebs, rückwärts, mit diesen sonderbaren Schlenkern seitwärts. Ich bin damit allein. Sehr allein. Ich denke nach. Die Empfindungen überlagern sich manchmal wie versetzt mit den Dingen, die ich lese. Eine leichte Verschiebung, eine Dopplung der Ränder, wie ein Schatten, leicht verwischt.
    Ich nehme die Briefe noch einmal zur Hand, sehe nach dem Datum auf den gelben Aufklebern und suche in der Nähe dieser Daten noch einmal genauer in meinen Tagebüchern und Kalendern, als wollte ich die Funde miteinander abgleichen. Ich überlege, welches Gespräch in welchem Hotel stattgefunden haben könnte, schaue, ob ich irgendwo Bezug darauf nehmen kann. Die Treffen im Restaurant Walterspiel etwa, es waren sicher mehr als zwei oder drei, bei einem hatten wir den Redakteur der Wochenzeitung getroffen, dem du mich vorstellen wolltest; ein anderes Mal war es im Hotel Bayerischer Hof –
    und plötzlich lasse ich alles fallen, plötzlich ist es völlig gleichgültig, eine andere Erinnerung packt mich, unerwartet, körperlich geradezu trifft sie mich und beschleunigt meinen Puls, schlägt mir in den Magen, als ich das Papier berühre, das zarte, knistrige Futter der Umschläge, als ich es fühle, mit einer akuten Überdeutlichkeit, die raue Briefmarke, grün, mit einem Traktor, achtzig Pfennig, an den Zacken etwas hochgebogen, das Papier der Briefe –
    der Briefe,
    die du in deinem Schreibtisch aufbewahrt hattest, der Schreibtisch zu Hause, vor dem ich gestanden habe, am Tag deiner Beerdigung, als ich zum ersten und einzigen Mal dein Zuhause kennenlernte, als deine Frau, Pia, damals gerade mal seit einer knappen Woche deine Witwe, gesagt hatte, geh nur hinauf, Helen, sieh dich überall um, sieh dir alles an, und –
    Helen, dankbar, der Konversation ausweichen zu können, war in den ersten Stock gestiegen, von dem aus man – alles war offen in diesem modernen Architektenhaus – in das Wohnzimmer ebenso sehen konnte wie ins Schlafzimmer, in dem ein schwarz-weißes Fell wie von einem Zebra oder einer Kuh über das breite Bett geworfen war, was Helen nebenher abspeicherte, was ihr später als Bild wieder gegenwärtig wurde. Ringsum waren hohe Fenster, die ganze Fassade nach hinten hinaus, zum Garten hin, war aus Glas, und Julius’ Blick hatte frei über die Räume und in den Garten hinaus schweifen können, bis zum angrenzenden Wald hin, der, als Helen dort stand, winterlich kahl aussah, an diesem grauen, bewölkten Tag Anfang Dezember. Helen, der sich das Herz zusammenkrampfte, verlor sich einen Moment lang in diesem Wald, die dunklen Bäume mit ihrem nackten Geäst standen da wie traurige Gefährten, die in ihre Richtung sahen und zu fragen schienen, warum bist du dort? Warum allein? Und die wussten, du, Julius, würdest

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