Der Tag mit Tiger - Roman
los?«
Mit einem ganz dünnen Stimmchen antwortete sie auf Tigers barsche Frage: »Das ist so hoch hier …«
»O nein, das nicht auch noch! Warum musstest du denn da hinauf, wenn du nicht schwindelfrei bist?«
Anne betrachtete diese Frage als eine rhetorische, denn sie half ihr nicht weiter. Sie bemühte sich, die leichte Übelkeit herunterzuschlucken, die ihr die Höhe und die Panik verursachten. Dann versuchte sie sich zu erinnern, wie Tiger den Abstieg normalerweise durchführte. Ihr graute jedoch davor, sich kopfüber mit den Vorderpfoten auf den nächst niederen Ast hinab zu lassen. Hilflos schloss sie die Augen und schnaufte.
Auf einmal kam ihr eine frühere Situation in den Sinn. Tiger war, gerade als sie sich kennengelernt hatten, im vollen Jagdfieber hinter einem Eichhörnchen den Kirschbaum hochgeschossen und hatte sich dann nicht wieder herunter getraut. Anne hatte damals den spuckenden und fauchenden Tiger mit der Leiter und dicken Handschuhen gerettet. Sie erwartete jetzt zwar keine Hilfe von ihm, aber die Erinnerung ermutigte sie, den Weg nach unten weiter fortzusetzen. Dabei lernte sie zu ihrer großen Zufriedenheit die Federkraft ihrer Beinmuskulatur kennen.
Noch ein Ast und noch ein Ast. Auf halber Höhe angekommen, hob sie stolz den Kopf, um nach Tiger zu schauen. Er blickte jedoch gelangweilt über den Garten in die Schatten der Dämmerung. Erst als sie den letzten mutigen Sprung nach unten getan hatte, wandte er sich ihr wieder zu und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er ging voran in den Garten. Mit geübtem Schritt fand er eine ausreichend große Lücke zwischen den Stämmen der Büsche und verschwand unter den Blättern. Anne hatte etwas mehr Schwierigkeiten. Sie traute sich nicht durch die engen Zwischenräume, und nach dem dritten Versuch entrang sich ihr ein klägliches Maunzen. Zu ihrem Erstaunen war Tiger sofort zur Stelle.
»Was jaulst du denn jetzt schon wieder?«, fauchte er ungeduldig.
»Ich weiß nicht, wo ich durch die Hecke kommen soll, sie ist so furchtbar dicht.«
»Dummes Zeug, du hast noch kein dichtes Gebüsch gesehen. Sieh mal hier und hier und dort! Überall kommst du durch.«
»Woran erkennst du das denn?«
»Wozu haben wie wohl unsere Schnurrhaare? Wo die durchpassen, geht auch der Rest durch. Auf, ich gehe voran!«
Sie folgte ihm vertrauensvoll durch die schmale Lücke und wunderte sich, dass sie noch nicht einmal hängenblieb. Dann standen sie beide auf dem kurz geschnittenen Rasen und schauten hinab zu der Wiese gegenüber der Straße.
»Es fühlt sich ja ganz hübsch unter den Pfoten an, diese kurze kühle Gras, aber zum Anschleichen ist es völlig ungeeignet. Keine Deckung hier, verstehst du«, klärte Tiger sie auf. Dann begann er, sich Richtung Gartenzaun zu bewegen, undAnne trottelte, fröhlich die Umgebung musternd, hinter ihm her. Rosenbüsche grenzten das Grundstück ein. An einer bis zum Boden reichenden Blütenranke blieb sie stehen, um den Duft einer sich eben öffnenden weißen Rosenknospe aufzunehmen. Danach schlenderte sie zum nächsten Rosenbusch, dessen rote Blüten in voller Pracht im Dämmerlicht des Morgens leuchteten. Auch hier nahm sie eine Nase voll Duft auf, dann ging sie weiter zu dem Busch rosafarbener Röschen und schnupperte.
»Mir ist noch nie aufgefallen, wie unterschiedlich die Rosen riechen können. He, Tiger das ist absolut toll!« Sie blickte sich um. »Tiger! Tiger …? Tiger, wo bist du?«
Sie richtete sich auf und blickte durch den Jägerzaun. Da saß Tiger stocksteif am Straßenrand und rührte sich nicht. Spornstreichs lief sie zu ihm und setzte sich neben ihn.
»Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«
Tiger zuckte zusammen und musterte sie einen Moment mit einer Falte über der Nase.
»Ach, nichts … Ich erinnerte mich hier nur an etwas. Na, egal. Komm, wir gehen ins richtige Revier. Pass ein bisschen auf Kletten und Zecken auf, die sind so schwer aus dem Fell zu bekommen.«
Gemeinsam überquerten sie die Straße und kamen an den geparkten Fahrzeugen vorbei. An dem blauen Kleinwagen hielt Tiger inne und hinterließ eine Markierung am Hinterrad.
»Das solltest du auch machen, schließlich ist es unser Auto«, empfahl er.
Anne hatte Mühe, sich einen Kommentar zu der Formulierung »unser Auto« zu verkneifen und folgte – wenn auch mit einem Rest von Schamgefühl – seiner Aufforderung. Dannliefen sie weiter und waren schon fast an der Wiese angelangt, als in der Ferne Schritte
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