Der Tag mit Tiger - Roman
Augen und nuschelte: »Muss ich?«
Tiger stand in herrischer Haltung vor ihr und raunzte: »Natürlich musst du! Eigentlich würde ich viel lieber auch in den weichen Kissen treteln, aber die Pflicht ruft.«
Als Anne nur müde blinzelte, schubste er sie energisch mit den Pfoten zum Bettrand.
»Los, aufstehen, oder ich muss dich wie ein Katzenjunges am Genick durch das Revier schleifen.«
»Meine Güte, Tiger, was für eine Energie. Was haben wir denn noch vor?«
»Den Rundgang hier im Haus abschließen und dann draußen die Revierkontrolle machen.«
»Nach draußen?«
»Na klar, ich habe schließlich meine Verpflichtungen. Du kannst aber natürlich auch hier bleiben und weiterdösen. Ist mir auch egal.« Er zuckte gleichmütig mit der Schulter und glitt vom Bett.
Anne streckte sich, sprang ebenfalls auf den Boden und ging, alter menschlicher Gewohnheit folgend, ins Badezimmer. Die Duftwolke darin ließ sie förmlich zurückprallen. Duschgel, Körperlotion, Seife, Parfüms, Toilettenreiniger und Haarspray schienen eine fast sichtbare Geruchswand aufzubauen. Sie sprang auf den Waschtisch und setzte sich vor den Spiegel. Von dort konnte sie ihre ganze schlanke, grau-schwarz getigerte Gestalt sehen. Sie erhob sich, um sich auch im Stehen bewundern zu können. Besonders gefiel ihr der schwarze Streifen, der über ihren Rücken verlief und sich in dem elegant geringelten Schwanz fortsetzte.
Eigentlich war Anne nicht übermäßig eitel, und derartigeOrgien der Selbstbewunderung waren ihr eher fremd. Aber das Kätzische in ihr forderte jetzt seinen Tribut – und wurde ihr auch prompt zum Verhängnis. Während des Posierens und Drehens vor dem Spiegel achtete sie nicht auf die Fläschchen und Döschen, die auf dem Waschtisch verteilt waren. Da passierte es! Beim Versuch, eine besonders elegante Schwanzhaltung einzunehmen, fiel ein Probenfläschchen mit Magnolien-Parfüm um. Das dünne Glas zerbrach, und durch die sich bildende Parfümlache fegte der bewunderte nachtschwarze Schwanz mit seiner vollen Länge. Anne wollte ihn zwar bremsen, doch bei dem Versuch, Gewalt über ihren Schwanz zu bekommen, verlor sie das Gleichgewicht und rutschte von der glatten Keramik des Waschtisches ab.
Der Sturz war nicht schlimm, es war nicht hoch, auf dem Boden lag eine dicke Badematte, und ihr Instinkt ließ sie auf den Pfoten aufkommen, aber der Duft …!
Das Naserümpfen und die verächtlichen Kommentare, die sie mit Recht jetzt erwarteten, ließen ihre eitlen Anwandlungen zu Asche werden.
Geknickt an Schwanz und Stolz schlich sie aus dem Badezimmer.
Als sie ins Wohnzimmer trat, saß Tiger auf der Sofalehne und wartete auf sie. Bei ihrem Anblick wollte er etwas sagen, aber es blieben ihm ganz offensichtlich die Worte im Halse stecken. Mit offenem Mäulchen starrte er sie an.
»Angriff ist die beste Verteidigung«, dachte sich Anne und wollte sich gerade strecken, um eine vernichtende Bemerkung zu machen, als Tiger zu ihr heruntersprang und kommentarlos begann, mit Vehemenz den Schwanz des Anstoßes abzulecken.Nach einer Weile schaute er auf und meinte: »So, jetzt musst du weitermachen. Aber ganz werden wir den Geruch nicht herausbekommen, fürchte ich. Na, die Mäuse im Revier werden ihren Spaß haben. Du könntest sie mit einem Schwanzwedeln betäuben.«
»Du bist mir nicht böse?«, forschte Anne nach, noch immer gedemütigt von ihrem Badezimmerauftritt.
»Nein, das war ja zu erwarten. Schwamm drüber, du wirst mir jetzt sicher sagen, wie wir hier aus dem Haus herauskommen.«
»Was hast du denn für einen Vorschlag?«
»Frag nicht so dumm! Du weißt, dass ich immer die Terrassentür benutze.«
»Und warum machst du das jetzt nicht?«
»Meine Güte, muss ich schon wieder die Geduld mit dir verlieren! WEIL DIE GARDINE DAVOR IST!«
Tiger war eben temperamentvoll. Anne gewöhnte sich allmählich an seine harsche Art und versuchte, ihm vorsichtig klarzumachen, dass hinter der bodenlangen Gardine die Schiebetür einen Spaltbreit offen stand. Sie wusste, er hatte keine Bedenken von draußen durch die Tür hereinzuspazieren, auch wenn die Gardine zugezogen war. Doch er ließ sich durch den dünnen Stoff irritieren, wenn er vom Zimmer aus nach draußen wollte. Oft genug hatte sie auf sein klägliches Maunzen die Gardine ein Stückchen hochgehoben, damit er darunter durchkriechen konnte.
»Beruhige dich, Tiger! Ich zeige dir, wie das geht«, meinte sie gutmütig, lief zielgerichtet auf die leise im Nachtwind wehende Gardine
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