Der Tag mit Tiger - Roman
erklangen.
»Müssen wir uns verstecken?«, flüsterte Anne ängstlich.
»Ach, Quatsch, was bist du für ein furchtsames wildes Tier! Das ist doch nur Minni Schwarzhaupt, die Krankenschwester, mit der du sonst immer stundenlang Schwätzchen hältst und darüber meine Futterzeiten vergisst. Minni ist nett.«
Tatsächlich, als Minni, in bequemen Gesundheitssandalen und weißen Söckchen, die ausgeleierte graublaugrüne Strickjacke gegen die Morgenkühle eng um die Schultern gezogen, an den beiden Katzen vorbeikam, blieb sie kurz stehen und strich Tiger über den Kopf.
»Na, Junge, heute Gesellschaft auf dem Kontrollgang?«, erkundigte sie sich mit ihrer sanften Stimme.
Anne schaute sie mit großen Augen an und zuckte nur unmerklich zurück, als die riesige Hand aus der erhabenen Höhe zu ihr niederfuhr, um auch ihr sanft über den Kopf zu streichen.
»Na, na, nur keine Angst, Kleine. Was bist du für ein hübsches Kätzchen! Du erinnerst mich fast ein bisschen an meine Cleo.«
Anne fand die Berührung höchst angenehm und drehte den Kopf leicht in der Hand hin und her. Dabei schnurrte sie nach Leibeskräften. Dann verabschiedete sich Minni mit den Worten: »Also, ich muss weiter. Pass gut auf deine neue Freundin auf, Tiger.«
Mit einem letzten freundlichen Blick über die Schulter eilte Minni davon.
»Bilde dir jetzt bloß nichts ein«, murrte Tiger. »Wir nehmen zuerst den Kiesweg zur Brücke.«
Seite an Seite zogen die beiden los.
»Was ist eigentlich mit Cleo geschehen, Tiger? Ich habe sie seit fast einem Monat nicht mehr gesehen?«
»Das weiß ich doch nicht. Es gibt viele Wege, wie Katzen verschwinden können.«
»Hoffentlich ist ihr nichts Schlimmes passiert. Sie war so lebenslustig und so tapfer mit ihren drei Beinen.«
»Was muss dich das denn interessieren?«
Von dieser unfreundlichen Abfuhr entmutigt, schwieg Anne wieder und konzentrierte sich auf den Pfad, den sie jetzt einschlugen. Der Weg war gepflastert und fühlte sich rau und kühl unter den Pfoten an. Rechts und links standen Brombeerbüsche, deren weiße Blüten schwach dufteten. Einige Meter weiter lud eine Bank müde Spaziergänger zum Verweilen ein, und daneben stand ordnungsgemäß der Müllbehälter.
Angeekelt schüttelte Tiger die Pfoten. Unsympathische Zeitgenossen hatten den Inhalt in der Nacht angesteckt. Halbverkohltes Papier mit Essenresten lag verstreut um den Sitzplatz, Glassplitter von zerschlagenen Flaschen glitzerten scharfkantig auf dem Weg im Umkreis von einigen Metern, und an einer Stelle hatten widerwärtige Menschen sogar die Pflastersteine aus dem Weg gegraben und ins Gebüsch geworfen.
Tiger und Anne machten einen vorsichtigen Bogen um den verwüsteten Platz und blieben dann stehen, um auf den Schaden zurückzublicken.
»Menschen«, knurrte Tiger vielsagend.
»Scheußlich, ja. Und ich kann mir sogar denken, wer das war.«
»Kannst du das? Ich kann es mir nicht nur denken, ich kann es sogar riechen.«
»Ach ja, ich weiß, dass du besser riechen als denken kannst«, erlaubte sich Anne zu bemerken, wobei sie vorsichtshalber einen Schritt zur Seite tat.
»Plüschohr, ich warne dich«, grollte Tiger, aber offensichtlich hatte er sich langsam an derartige Bemerkungen gewöhnt.
»Mir sind seit einiger Zeit ein paar unangenehme Halbwüchsige aufgefallen, die mit großer Freude randalierend durch das Dorf ziehen. Ich denke, die haben schon einige hässliche Dinge auf dem Kerbholz.«
»Ja, ich glaube, wir meinen dieselben Jungs. Es sind vier, und sie riechen nicht besonders gut. Kannst du hier dran erkennen.« Tiger deutete mit seiner Nase auf eine am Wegesrand liegende Jacke, ein olivgrüner Blouson mit orangefarbenem Futter und von reichlichem Gebrauch gezeichnet.
»Hat wohl einer von denen vergessen.«
Die Pfote
Anne wurde neugierig. Sie schnüffelte an dem Kleidungsstück und versuchte, mit den Pfoten in die Taschen zu kommen.
»Was machst du denn da? Lass doch den stinkenden Lappen liegen.«
»Ich möchte aber gerne wissen, ob es irgendwelche Hinweise auf diese Typen gibt. Abgesehen davon bin ich einfach neugierig.«
Die beiden ersten Taschen waren bis auf ein schmutziges Papiertaschentuch leer, aber als Anne sich in die dritte Seitentasche hineinwühlte, angelte sie schließlich einen länglichen Gegenstand heraus. Zuerst erkannte sie ihn nicht, dochwährend sie das tiefe und zornige Grollen von Tiger neben sich hörte, wurde ihr plötzlich klar, was da vor ihr lag.
Das graupelzige Ding war eine
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