Der Tag mit Tiger - Roman
zu und setzte zum Sprung nach draußen an.
»NEIN! Tu’s nicht!« Tiger stand plötzlich vor ihr. »Manstößt sich ganz furchtbar den Kopf an dieser tückischen durchsichtigen Wand dahinter.«
»Oh, Tiger, jetzt weiß ich, was für eine schlechte Erfahrung du da gemacht hast. Du bist wohl mit vollem Sprung gegen die geschlossene Scheibe geflogen«, tröstete Anne ihn. Dann musterte sie ihn ein wenig seitlich von unten und versicherte ihm: »Vertrau mir, jetzt ist das Fenster offen. Du kannst unter der Gardine durchschlüpfen. Sieh mal so.«
Anne senkte den Kopf, schob ihn unter den Stoff und richtete sich auf, damit Tiger hinterher kriechen konnte.
Erste Schritte außerhalb
Mit einem Satz war der Kater draußen, Anne hinterher, und gemeinsam nahmen sie die Düfte der scheidenden Nacht wahr. Es war morgendlich kühl, und die Sonne schlummerte noch hinter dem Horizont. Doch das Licht der Sterne verblasste schon, und das war das Signal für die ersten Frühaufsteher unter den Vögeln, ihr verschlafenes Lied anzustimmen.
Anne und Tiger standen Schulter an Schulter auf der kleinen Terrasse. Über ihnen rauschten die Blätter der Buche leise in der sanften Brise. Anne sog die frische Nachtluft ein: Erde, Pflanzen, Feuchtigkeit, ein bisschen Auto, Spuren von Tiergeruch, ein ganz entfernter, vertrauter Duft von frischem Brot, von Westen her ein undefinierbarer Hauch von Wald und Leben und – ganz nah – das Magnolien-Parfüm.
Ein hohes Fiepsen ließ Anne aufhorchen, sie blickte zu Tiger und beobachtete, wie er buchstäblich seine Ohren spitzte. Sein Blick verbot jede Bemerkung, also konzentrierte Annesich auf ihr Gehör. Es war schon ein eigenartiges Gefühl, die Ohren unabhängig voneinander bewegen zu können! Und was es alles zu hören gab! Da trampelte ein Käfer über den Holzboden der Terrasse, da führte offensichtlich eine Gruppe von Mäusen einen Familienstreit in Ultraschall durch, irgendwo fiel ein Vogeljunges aus dem Nest und kam mit Plumps und Piepser auf dem Grasboden auf. Jetzt fehlte nur noch, dass sie das Wachsen der Grashalme hörte.
Aber soweit kam es nicht.
Tigers Aufmerksamkeit hatte sich wieder ihr zugewandt. Er beobachtete ihre Lauschanstrengungen mit milder Nachsicht.
»Na, alles gehört, was wichtig ist?«
»Ob es wichtig ist, weiß ich nicht, aber ich denke, wir haben eine Mäusefamilie auf dem Grundstück.«
»Stimmt, denen werden wir uns aber erst später widmen. Was hörst du sonst noch?«
»Mhm. Käfer, Vögel, Laubrascheln und so.«
»Horch nach Westen.«
Anne drehte den Kopf und stellte die Ohren nach vorne. Nach einer Weile antwortet sie: »Ich glaube, es plätschert Wasser und irgendwo tappen Pfoten über die Straße.«
»Das war recht gut für den Anfang. Das Wasserrauschen kommt von dem Bächlein hinten in der Wiese. Das Pfotentappen stammt von Jakob. Er ist auf Reviergang und schon verdammt nahe. Wir sind nicht in der Zeit.«
»Was hat das mit Jakob zu tun?«
»Wir haben uns das Revier nicht nur räumlich aufgeteilt, sondern auch nach bestimmten Zeiten. Ich treffe mich hin und wieder ganz gerne mit den Kumpels, aber so im täglichen Leben geht man sich doch eigentlich aus dem Weg.«
Tiger wirkte fast zutraulich, als er so entspannt mit ihr plauderte. Darum wagte Anne einige weitere zwanglose Fragen. Vorsichtig formulierte sie: »Jakob ist der weiß-scheckige Kater, dem der alte Herr in Nummer 30 gehört, nicht wahr?«
»Mhm.«
»Und wer gehört denn sonst noch so zu unserem Revier?«
Das war die falsche Formulierung.
»Wie meinst du das, zu UNSEREM Revier? Ich kenne mein Revier, du Katzenimitat! Von UNS kann keine Rede sein. Ich bin ausschließlich heute so nett, dich mitzunehmen. Also bilde dir keine Rechte ein.«
Mit diesen Worten wieder auf den Boden der Tatsachen gebracht, hüllte sich Anne erneut in Schweigen und lauschte den Schwingungen des anbrechenden Tages. Tiger strafte sie kurze Zeit mit Nichtbeachtung, besann sich dann jedoch wieder und wandte sich an sie.
»Ich muss meine Krallen für die kommenden Ereignisse in Form bringen. Zeit für Maniküre! Das machst du bestimmt auch gerne, wenn ich mich recht erinnere.«
Er streckte sich nach vorne, den Oberkörper fast auf der Erde, und begann gefühlvoll die Holzbohlen zu zerkratzen, die den Terrassenboden bedeckten. Dann musterte er Anne kritisch und fragte: »Kann ich dich einen Moment hier alleine lassen? Ich habe etwas mit Jakob zu regeln.«
»Ja, warum nicht?«
»Weil du aussiehst, als ob du
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