Der Tag mit Tiger - Roman
Katzenpfote!
Entsetzt ging sie langsam rückwärts. Dabei konnte sie ihren starren Blick nicht von der Pfote lassen. Trotzdem fand sie als erste die Worte wieder.
»Barbaren, Schweine, Verbrecher!«
Tiger grollte weiter, aber dann grub er seine Krallen in die Jacke und begann mit systematischem Rachedurst den Stoff des Ärmels in kleine Fetzen zu zerreißen. Anne beobachtete etwas gelassener dieses Beispiel kätzischer Zerstörungswut. Ihre Rachegedanken gingen über das Kleidungsstück hinaus. Nach kurzer Zeit war Tiger mit seinem Werk fertig – zufrieden und wieder ansprechbar.
»Wir wissen jetzt, wer die Übeltäter sind. Wenn wir sie treffen sollten, werden wir uns etwas sehr Unangenehmes einfallen lassen.«
»Wie kannst du nur so ruhig und bedächtig sein, wenn es um Blutrache geht!«, fauchte Tiger sie an.
Anne betrachtete ihn nachdenklich. »Weißt du, ich finde Blutrache nicht richtig. Meist erwächst daraus nur noch Schlimmeres. Wir wissen nicht, wie der Typ, dem diese Jacke gehört, an die Katzenpfote gelangte. Wir können versuchen herauszufinden, wie er dazu gekommen ist. Jetzt ohne Sinn und Verstand herumzuwüten bringt uns überhaupt nicht weiter.« Sie schaute Tiger freundlich und Zustimmung erheischend an. »Außerdem musst du doch deinen Reviergang weiterführen.«
Tiger blieb einen Moment sitzen und putzte sich gedankenversunken die rechte Flanke. »Okay, kannst recht haben. Gehen wir weiter.«
Sie setzten ihren Weg fort, bis sie zu der kleinen Brücke kamen, die über das Bächlein führte. Hier war es deutlich einige Grade kühler als in dem höher gelegenen Dorf, und es roch wundervoll feucht und ein bisschen moderig. Die Pflanzen am Ufer waren saftig grün, und das Wasser plätscherte klar über die Steine. Tiger wählte zu Annes Erstaunen nicht den Weg über die Brücke, sondern folgte dem ausgetretenen Pfad zum Wasser.
»Du wirst doch wohl nicht etwa ein Bad nehmen wollen, Tiger?«, hänselte sie ihn mit bewusst harmloser Miene.
»Rattenschwanz, ich bin durstig! Dir sind solche schlichten Gefühle wohl fremd, was?«
»Nein, jetzt wo du es sagst, eigentlich nicht. Aber diese Stelle ist doch recht abschüssig, oder? Und etwas glitschig ist der Boden auch.«
»Du bist reichlich zimperlich. Dann such dir doch einen besseren Platz, aber lauf nicht so weit weg.«
»Nein, nein«, antwortete Anne, bereits im Fortgehen. Sie erinnerte sich an einen kleinen Stausee mit Wasserrad und Dämmen, den vor kurzem ein paar Kinder etwa zehn Meter weiter gebaut hatten. An ihm würde das Wassertrinken viel einfacher sein.
Und richtig, da war schon der Ort, an den sie gedacht hatte. Das Wasserrad aus Zweigen war zwar verschwunden, weggespült von den reißenden Fluten des Bächleins, aber die Dämme bildeten noch immer einen kleinen See.
Anne beugte sich zur Wasseroberfläche, und nach einigen unwesentlichen Schwierigkeiten mit dem Schlabbern hatte sie den Dreh heraus, aus der Zunge einen Schöpflöffel für die glasklare Flüssigkeit zu machen. Das Quellwasser schmeckte ihr ausgesprochen gut.
Nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, traf sie noch eine weitere Entscheidung. Der sie wie ein Kometenschweif verfolgende Duft ihres Schwanzes fing an, ihren Geruchssinn stark zu beeinträchtigen. Abgesehen davon fand sie Magnolien-Parfüm schon immer zu süßlich.
Mit der Mahnung »Disziplinier’ dich!« tauchte sie todesmutig ihren Schwanz in das kalte Wasser.
Es schüttelte sie.
Anne begann zu zweifeln, ob sie jemals wieder würde duschen mögen.
Die Beantwortung dieser selbstgestellten Frage musste unterbleiben, denn ein Platschen und ein äußerst unwilliger Katzenlaut trafen auf ihr linkes Ohr. Rasch zog sie ihren triefenden Schwanz aus dem Wasser, schüttelte sich kurz und wollte zum Ort des Geschehens sprinten, als ihr nach dem ersten Sprung einfiel, dass ein wenig Rücksichtnahme auf Tigers empfindliche Würde ihr sicher besser anstand. Also widmete sie sich zunächst noch einige Minuten der Pflege ihres Schwanzes. Als er einigermaßen trocken war und vor allem neutral roch, schlenderte sie in Richtung Brücke.
Zunächst bemerkte sie Tiger überhaupt nicht, denn sein braun-schwarz getigertes Rückenfell gab ihm ausreichend Deckung im hohen Gras. Er saß mit dem Rücken zu ihr und putzte sich.
Anne bemühte sich, so laut wie möglich in seine Nähe zu kommen. Sie raschelte mit dem Gras, murmelte halblaut vor sich hin, bis es ihr schließlich gelang, Tigers Aufmerksamkeit zu erringen. Er
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