Der Tag wird kommen
es zum Schulschluss klingelt.
Im Augenblick würde ich am liebsten auf Alternative zwei setzen, das muss ich zugeben. Wenn Mum draußen auf mich wartet, können sie mir nichts tun. Ich brauche ihr nur zu erzählen, was ich befürchte, dann kommt sie. Das weiß ich. Ihr wird eine Ausrede einfallen, warum sie früher Feierabend machen muss, sie rettet mich mehr als gern. Aber dann weiß sie, dass es wieder angefangen hat. Dann kann sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie wird Gunnar anrufen, sie wird Andreas’ Eltern anrufen, sie wird ein Elterntreffen organisieren und beim Rektor auf den Tisch hauen. Und dann bin ich wieder das, was ich schon in der Grundschule war: das offizielle Mobbingopfer.
Alternative eins ist kompletter Selbstmord. Wenn sie sich vorgenommen haben, mich zu schnappen, werden sie so lange draußen warten wie nötig. Mit jeder Minute, die vergeht, werden sie sich mehr aufstacheln, sie werden sich richtig auf den Moment freuen, in dem ich rauskomme, werden bis ins kleinste Detail planen, was passieren soll. Also muss ich auf Alternative drei setzen. Muss so schnell wie möglich draußen sein und versuchen, mich im Wald zu verstecken.
Gunnar steht an der Tafel und erklärt die Wochenaufgabe in Englisch. Es ist merkwürdig still in der Klasse, aber nicht, weil ihm irgendjemand zuhören würde. Mittwoch ist der längste Schultag, alle sind müde und haben ihr Gehirn abgeschaltet. Jeder will nach Hause, aber keiner klebt mit den Augen so an der Uhr wie ich. Mir ist, als könnte ich durch Gunnars Gebrabbel hören, wie sich die Zeiger der Wanduhr bewegen. Als ich sehe, dass es gleich klingeln muss, schiebe ich die Bücher schon mal unauffällig in den Rucksack, stecke meine Arme in die Jackenärmel und mache mich bereit, jede Sekunde loszuflitzen. Ich bin wie ein Pfeil in einem gespannten Jagdbogen. Beim ersten Klingelton springe ich auf und bin schon halb draußen, ich bin schnell, ich bin der Erste, ich liege vor der Menge. Ich kann es schaffen.
»Ach, Hans Petter!«
Scheiße! Ich stoppe, als ich Gunnar meinen Namen rufen höre, ich hätte so tun sollen, als hätte ich ihn nicht gehört, aber jetzt ist es zu spät.
»Komm mal kurz.«
Ich zögere, aber ich sehe keinen Ausweg. Andreas rempelt mich an, als ich auf Gunnar zugehe, er wirft mir einen letzten, drohend munteren Blick zu, dann verschwindet er durch die Tür. Ich habe verloren.
»Ich wollte dich nur an die Gruppe morgen erinnern«, sagt Gunnar beinahe flüsternd. Das ist wohl seine Art, diskret zu sein. Sehr schlau, Gunnar. So kriegt garantiert keiner was mit, ehrlich.
»Gleich nach dem Unterricht, wie letztes Mal«, fügt er hinzu.
Sein Arm hebt sich ein wenig, es sieht aus, als wollte er mir auf die Schulter klopfen, aber er überlegt es sich anders und senkt den Arm wieder. Ich nicke kurz. Bleibe stehen. Ich habe es nicht mehr eilig, mein Vorsprung ist weg.
»Klar, ich komme«, sage ich. In erster Linie, um einen Vorwand zu haben, warum ich noch dastehe. Ich schaue zur Tür. Die meisten sind gegangen. Ein paar Mädchen gackern und kichern noch herum, aber auch sie sind schon auf dem Weg nach draußen.
»War noch was, Hans Petter?«
Gunnar sieht mich fragend an. Vielleicht hat er die Angst in meinem Blick bemerkt.
»Nö, bis morgen dann«, antworte ich und gehe. Ich muss ja nach Hause. Was bleibt mir anderes übrig, als mich in mein Schicksal zu fügen? Aber meine Beine sind schwer, und ich lasse mir auf dem Weg nach draußen so viel Zeit, wie ich kann.
Die Straße ist verdächtig leer. Es regnet, die meisten haben es eilig gehabt, ins Trockene zu kommen. Der Schulhof wirkt so riesig, wenn die Schule aus ist. Er fällt etwas zur Straße hin ab, das Regenwasser sammelt sich in kleinen Bächen zwischen den braunen Blättern, die in Haufen auf dem Asphalt liegen. Hier und da stehen noch welche und quatschen, aber Andreas ist nirgends zu sehen.
Kann sein, dass ich die Zeichen falsch gedeutet habe. Ich beschließe dennoch, den Weg durch den Wald zu nehmen, sicherheitshalber.
Es gießt immer stärker. Das macht mir Hoffnung. Andreas hat bestimmt keinen Bock, im strömenden Regen auf mich zu warten. Vielleicht war ja auch alles nur Einbildung. Vielleicht bin ich schon paranoid und sehe überall Gefahren. Ich versuche, mich nicht über die Schulter umzusehen, während ich gehe, aber ich rechne damit, dass sich jeden Moment jemand auf mich stürzt.
Trotzdem zucke ich zusammen, als es endlich passiert.
Ich liege mit dem Gesicht im
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