Der Talisman (German Edition)
einem Schnellboot der Wasserschutzpolizei steuerte der Frachter den nächsten Hafen an. Hier endete vorerst die Reise. Während die Beamten das Schiff durchsuchten und Spuren sicherten, machten Yasha und Graf Gregorio im Polizeigebäude ihre Aussagen zu dem Überfall.
Das Polizeigebäude war ein kleiner, weiß gestrichener Bau, der fast wie ein Würfel aussah. Die dunklen Fensterläden waren wegen der Hitze geschlossen. Im Inneren des Gebäudes roch es nach Aktenstaub und ein wenig nach grüner Seife.
Yasha zog unbehaglich die Schultern nach oben. Der Polizist, der vor ihnen an einem mächtigen, alten Holzschreibtisch saß und hingebungsvoll an seinem Bleistift kaute, sah aus wie eine schwer beleidigte Bulldogge. Er musterte die beiden Freunde so streng, als wären sie schuld an dem Überfall. Graf Gregorio hatte seine Aussage bereits zu Protokoll gegeben und die Bulldogge reichte ihm den angebissenen Stift. »Unterschreiben – hier unten!«
Dann war Yasha an der Reihe. Stockend begann er zu erzählen. Dabei dachte er mit schlechtem Gewissen an das zerknitterte Foto in seiner Hosentasche. Er hatte das Bild von seinem Vater und dem Drachen heimlich aus der Mappe herausgerissen und eingesteckt, bevor die Polizei an Bord gekommen war. Plötzlich funkelten die Augen der Bulldogge amüsiert: »Ledermantel und Jeansjacke«, dem Polizisten traten vor Lachen die Tränen in die Augen, »nein, nein, Junge, so kann ich die Namen nicht in das Protokoll schreiben. Laut der Passagierliste heißen die kanadischen Wissenschaftler Bud Miller und Tchokray, der zweite Miller – sie sind Brüder. Die Jeansjacke gehört zu Bud Miller, das wissen wir bereits. Also meinst du mit Ledermantel Tchokray, den zweiten Miller?« »Mmh, ja, dann meine ich Tchokray!«, antwortete Yasha folgsam.
Nachdem Yasha
und Graf Gregorio alle
Fragen beantwortet hatten, empfahl der Polizist ihnen, ihre Reise nach Venedig umgehend fortzusetzen. »Erzählen Sie keinem Menschen von dem Überfall und der Entführung! Die Mafia hat ihre Augen und Ohren überall. Sie bekommen sonst größte Schwierigkeiten!«, wisperte er Yasha und Graf Gregorio leise zu. Dann sagte die Bulldogge sehr laut: »Unten am Pier können Sie den Passagierdampfer nach Venedig nehmen. Er fährt in einer halben Stunde ab, beeilen Sie sich! Und hier, meine Herren, bitte sehr! Ihre Ausweise und Ihr Reisegepäck! Gute Fahrt! Arrivederci!«
Am nächsten Morgen erreichte der Passagierdampfer mit Yasha und Graf Gregorio sein Ziel. Vor ihnen glitzerte Venedig in den ersten Sonnenstrahlen. Der Anblick war wunderschön. »Träume ich?«, fragte Yasha erstaunt. »Aber nein, Yasha! Das ist Venedig!« Graf Gregorio öffnete den kleinen roten Samtkasten, holte seine kleine Geige heraus und spielte sein schönstes Lied zu Ehren dieser bezaubernden Stadt. Die Klänge der Musik schwebten in die Höhe und bildeten Tausende von kleinen, leuchtenden Perlen, die wie Sterne auf Venedig herunterregneten. Die kleine Geige sang mit ihrer unglaublich schönen Stimme und die Leute auf der Kaimauer drehten überrascht die Köpfe.
»Komm«, rief Graf Gregorio gut gelaunt, »jetzt will ich dir Venedig zeigen!« »Wo sind hier die Straßen?«, fragte Yasha. »Ich sehe nur Wasser!« Da lachte Graf Gregorio. »Das ist das Besondere an Venedig: Es ist eine Lagunenstadt. Die Hauptstraßen sind Kanäle. Es gibt zwar auch kleine Seitenstraßen, aber in Venedig fährt man fast nur mit Booten. Die heißen übrigens Vaporettos. Der historische Stadtkern wurde auf mehr als 100 kleinen Inseln erbaut. Damit die Häuser und Paläste nicht im schlammigen Untergrund versinken, rammte man Millionen von Holzpfählen in den Boden. Und nun, auf zum Campanile di San Marco!«, rief Graf Gregorio dem Fahrer eines Wassertaxis zu, und schon fuhren sie los. Elegant manövrierte sie der Fahrer durch die schmalen Kanäle. Hin und wieder hob er lässig die Hand und begrüßte einen seiner Kollegen. Yasha staunte über die wunderschönen alten Paläste und prächtigen Häuser, die direkt im Wasser standen.
Der Markusturm ist der Glockenturm des Markusdoms. Der Campanile di San Marco ist das höchste Gebäude in Venedig. Er ist 98,6 Meter hoch. Vor dem Kassenhäuschen hatte sich bereits eine lange Schlange von Menschen gebildet. Yasha und Graf Gregorio stellten sich an, um mit dem Fahrstuhl nach oben in die Glockenstube des Campanile di San Marco zu gelangen. Yasha drängte sich durch die Menschenmenge, bis er ganz vorne an der
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