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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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dem er haltgemacht hatte, um zu trinken. Es war durchaus möglich, dachte er, dass etwas von dem Moos in die Flasche fallen würde oder es bereits getan hatte. Ein Jammer – es würde das feine Aroma und das zarte Bukett beeinträchtigen.
    Als er da lag, endlich warm geworden, sehr schläfrig, war das Gefühl, dessen er sich am stärksten bewusst war, Erleichterung – als hätte er ein Dutzend Fünf-Kilo-Gewichte auf dem Rücken getragen und irgendeine freundliche Seele hätte die Riemen gelöst und sie zu Boden fallen lassen. Er war wieder in der Region, dem Land, in dem so reizende Geschöpfe wie Morgan von Orris, Osmond der Peitschenschwinger und Elroy, der Wundervolle Bock-Mann, zu Hause waren, in der Region, wo alles mögliche passieren konnte.
    Aber die Region konnte auch gut sein. Daran erinnerte er sich aus seiner frühen Kindheit, als sie alle in Kalifornien lebten und nirgendwo anders. Die Region konnte gut sein, und ihm war, als spürte er jetzt diese Gutartigkeit rings um sich herum, so friedlich, so unbestreitbar süß wie der Duft des Heuschobers, so klar wie der Geruch der Luft in der Region.
    Verspürt eine Fliege oder ein Marienkäfer Erleichterung, wenn ein unerwarteter Windstoß kommt und die Kannenpflanze gerade so weit biegt, dass das ertrinkende Insekt entkommen kann? Jack wusste es nicht – aber er wusste, dass er aus Oatley heraus war, weit fort vom Schönwetterclub, von alten Männern, die über gestohlenen Einkaufswagen heulten, weit fort von Biergeruch und dem Gestank von Erbrochenem – und, was am wichtigsten war, weit fort von Smokey Updike und dem Oatley Tap.
    Vielleicht würde er trotz allem eine Weile in der Region wandern.
    Mit diesem Gedanken schlief er ein.
     
    2
     
    Am folgenden Morgen war er vier, vielleicht fünf Kilometer die Weststraße entlanggewandert und hatte das Sonnenlicht genossen und den guten Erdgeruch von Feldern, die bald abgeerntet werden würden, als ein Wagen angerollt kam und ein schnurrbärtiger Farmer in einer Kleidung, die aussah wie eine Toga mit rauen Breeches darunter, anhielt und rief:
    »Willst du zum Markt, Junge?«
    Jack starrte ihn erschrocken an; der Mann sprach kein Englisch – nicht einmal das Englisch, das man zur Zeit der Pilgerväter gesprochen hatte.
    Neben dem schnurrbärtigen Farmer saß eine Frau in einem weiten Kleid: sie hielt einen vielleicht dreijährigen Jungen auf dem Schoß. Sie lächelte Jack nicht unfreundlich an und ließ dann die Augen zu ihrem Mann rollen. »Er ist einfältig, Henry.«
    Sie sprechen kein Englisch – aber was sie auch sprechen mögen, ich verstehe sie. Ich denke sogar in dieser Sprache – und das ist nicht alles – ich sehe in ihr oder mit ihr oder was auch immer.
    Jack begriff, dass er das bereits bei seinem vorigen Besuch in der Region getan hatte – nur war er damals zu aufgeregt gewesen, um es zu begreifen; es war alles so schnell gegangen, und alles war ihm fremd vorgekommen.
    Der Farmer beugte sich vor. Er lächelte und zeigte dabei Zähne, die in einem grauenhaften Zustand waren. »Bist du einfältig, Junge?« fragte er nicht unfreundlich.
    »Nein«, sagte er und erwiderte das Lächeln, so gut er konnte; er wusste, dass er nicht nein gesagt hatte, sondern ein Wort der Region, das nein bedeutete – als er geflippt war, hatten sich seine Sprache und seine Art zu denken (oder zumindest seine Art, sich etwas vorzustellen – dieses Wort war in seinem Vokabular nicht enthalten, aber er verstand trotzdem, was es bedeutete) ebenso verändert wie seine Kleidung. »Ich bin nicht einfältig. Aber meine Mutter hat gesagt, ich soll mich vorsehen bei den Leuten, die ich unterwegs treffe.«
    Jetzt lächelte die Frau des Farmers. »Deine Mutter hatte recht«, sagte sie. »Willst du zum Markt?«
    »Ja«, sagte Jack. »Das heißt, ich will weiter die Straße entlang – nach Westen.«
    »Dann steig hinten auf«, sagte der Farmer. »Das Tageslicht bleibt nicht lange. Ich will verkaufen, was ich habe, und vor Sonnenuntergang wieder zu Hause sein. Der Mais taugt nicht viel, aber es ist der letzte des Sommers. Wir können froh sein, im Neunmond überhaupt noch Mais zu haben. Vielleicht kauft ihn jemand.«
    »Danke«, sagte Jack und kletterte auf die Ladefläche des niedrigen Wagens. Hier waren Dutzende von Maiskolben mit rauem Bindfaden zusammengebunden und aufgestapelt wie Klafterholz. Wenn dieser Mais nicht viel taugte, dann konnte sich Jack nicht vorstellen, wie guter Mais hier aussah – es waren die größten

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