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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Teppichhändler wandte sich ab und holte etwas von einem kleineren Regal rechts neben dem größten Teppich – es war oval und hatte einen kurzen Griff. Als er es umdrehte, ließ die Sonne es aufblitzen – es war ein Spiegel. Er kam Jack klein und billig vor, ein Gegenstand von der Art, wie man sie auf dem Jahrmarkt bekommt, wenn man in einer Spielbude drei hölzerne Milchflaschen umgeworfen hat.
    »Hier, mein Junge«, sagte der Teppichverkäufer. »Schau hinein und sieh selbst, ob ich recht habe.«
    Jack schaute in den Spiegel und schnappte nach Luft; einen Augenblick lang war er so verblüfft, dass er glaubte, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Er war es selbst, aber er sah aus wie eines der Geschöpfe aus dem Narrenland in der Disney-Version von Pinocchio, wo übermäßiges Billardspielen und Zigarrenrauchen Jungen in Esel verwandelt hat. Seine Augen, seinem angelsächsischen Erbgut entsprechend normalerweise blau und rund, waren jetzt braun und mandelförmig. Sein Haar, das ihm wie eine verfilzte Matte in die Stirn hing, hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einer Mähne. Er hob eine Hand, um es zurückzuschieben, und berührte nur nackte Haut – im Spiegel schienen seine Finger einfach durch das Haar hindurchzugleiten. Er hörte den Händler vergnügt lachen. Und was das Erstaunlichste war: an beiden Seiten seines Kopfes hingen lange Eselsohren herab. Noch während er hinschaute, zuckte eines der Ohren.
    Plötzlich dachte er: So einen Spiegel hatte ich schon!
    Und gleich darauf: In den Tagträumen hatte ich so einen Spiegel. In der regulären Welt war es … war es …
    Er konnte höchstens vier gewesen sein. In der regulären Welt (er hatte, ohne es überhaupt zu bemerken, aufgehört, an sie als die wirkliche Welt zu denken) war es eine große Glasmurmel mit einem rosigen Zentrum. Eines Tages, als er damit spielte, war sie den Betonweg vor dem Haus hinabgerollt und, bevor er sie zu fassen bekam, in einen Gully gefallen. Er hatte sie verloren – für immer, hatte er damals gedacht; er hatte sich auf den Bordstein gesetzt, das Gesicht in den schmutzigen Händen vergraben und geweint. Aber es war nicht für immer gewesen – jetzt hielt er das alte Spielzeug wieder in Händen, und es war so wunderbar wie damals, als er drei oder vier gewesen war. Er lächelte entzückt. Das Bild veränderte sich, und aus Jack dem Esel wurde Jack der Kater mit einem weisen, insgeheim belustigten Gesicht. Seine Augen verfärbten sich von Eselbraun zu Katergrün, und kleine graubepelzte Ohren ragten wachsam dort auf, wo zuvor lange Eselsohren gebaumelt hatten.
    »Besser«, sagte der Händler. »Besser, mein Sohn. Ich sehe gern glückliche Jungen. Ein glücklicher Junge ist ein gesunder Junge, und ein gesunder Junge findet seinen Weg in der Welt. So steht es im Buch vom guten Wirtschaften, und wenn es nicht drinsteht, gehört es hinein. Vielleicht kratze ich es hinein, wenn ich je genug zusammenkratze, um mir ein Exemplar zu kaufen. Willst du den Spiegel?«
    »Ja!« rief Jack. »Ja, gern!« Er suchte nach seinen Stäbchen. Alle Sparsamkeit war vergessen. »Wie viel kostet er?«
    Der Händler runzelte die Stirn und schaute sich rasch um, um festzustellen, ob sie beobachtet wurden. »Steck ihn weg, mein Sohn. Steck ihn sicher weg. Zeigst du deine Moneten, dann kannst du nur noch beten. Für Picker ist das Marktgewimmel der reinste Himmel.«
    »Wie bitte?«
    »Schon gut. Ich schenke ihn dir. Umsonst. Die Hälfte davon geht ohnehin zu Bruch, wenn ich im Zehnmond in meinen Laden zurückkehre. Mütter bringen ihre Kinder her, aber sie laufen, ohne zu kaufen.«
    »Und Sie haben nichts zu versaufen«, sagte Jack.
    Der Händler sah ihn überrascht an, und dann brachen beide in Gelächter aus.
    »Ein glücklicher Junge mit einem fixen Mundwerk«, sagte der Händler. »Komm wieder, wenn du kühn und weniger grün bist, mein Sohn. Mit deinem Mund in der Hand ziehen wir durchs Land und machen uns gute Jahre mit unserer Ware.«
    Jack kicherte. Der Mann war besser als eine Schallplatte von der Sugarhill Gang.
    »Danke«, sagte er (und der Kater im Spiegel verzog das Maul zu einem unwahrscheinlich breiten Grinsen). »Vielen Dank.«
    »Bedank dich nicht groß«, sagte der Händler – und setzte dann hinzu: »Und gib acht auf dein Moos!«
    Jack ging weiter, nachdem er den Spiegel sorgfältig neben Speedys Flasche in seinem Wams verstaut hatte.
    Und alle paar Minuten vergewisserte er sich, dass seine Stäbchen noch da waren.
    Im Grunde

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